2 Phänomenologische, terminologische und begriffliche Klärung des Gegenstandsbereichs

2.1 Einleitung

Da der Begriff der "Sekte" in der Wissenschaft und in der Umgangssprache in unterschiedlicher Weise, vor allem in innerreligiösen Auseinandersetzungen verwendet wird und der Ausdruck "Psychogruppe" neu ist, war zu klären, ob durch diese beiden Begriffe der Gegenstandsbereich der Arbeit der Enquete-Kommission zureichend und sachgerecht bestimmt werden kann; bereits im Einsetzungsbeschluß sind die Begriffe durch ein "sogenannt" als vorläufig ausgezeichnet. Es wird im folgenden im ersten Teil exkursorisch an einigen ausgewählten Beispielen der Begriff der "Sekte" und der "Psychogruppe" erörtert und im zweiten daraus folgend das Aufgabengebiet der Enquete-Kommission näher eingegrenzt.

Im Laufe der Arbeit der Kommission hat sich zum einen gezeigt, daß verschiedene Begrifflichkeiten auch verschiedene Teilaspekte des Gesamtphänomens abdecken. Hierauf wird weiter unten im einzelnen eingegangen. Zum anderen hat sich gezeigt, daß bei weitem nicht alle Aussagen über Gruppierungen, die mit dem Oberbegriff "sogenannte Sekten und Psychogruppen" bezeichnet werden, tatsächlich auch auf das gesamte Spektrum zutreffen. Viele Konflikte, von denen in diesem Bericht die Rede sein wird, sind Konflikte mit einem verhältnismäßig kleinen Teil von Gruppierungen aus dem Gesamtspektrum, teilweise auch Konflikte, die zeitgebunden sind, da sie typisch für ein bestimmtes Entwicklungsstadium der Gruppe sind.

2.2 Zum Begriff der "Sekte"

Der Einsetzungsauftrag verpflichtet die Enquete-Kommission zu klären, ob die bisherige gesellschaftspolitische Behandlung und die pauschale Bezeichnung bestimmter Organisationen als "Sekte" oder "Jugendsekte" der tatsächlichen Entwicklung und den Notwendigkeiten für eine angemessene gesellschaftspolitische Auseinandersetzung entsprechen. Deshalb war eine Auseinandersetzung mit den Begriffen "Sekte" und "Psychogruppe" erforderlich. Auch in der Literatur wird teilweise die Verkehrsgeltung des Begriffs "Sekte" als gegeben angesehen. Es gibt daneben andere Begriffe, die teilweise andere begriffliche Schwerpunkte setzen: Fr. W. Haack hat die Bezeichnung "Jugendreligion" eingeführt. Aus Amerika kommend haben sich auch die Bezeichnungen "Kult", "destruktive Kulte" eingebürgert. Es finden sich auch Bezeichnungen wie "Neureligion", "neue religiöse Bewegungen" bzw. "neureligiöse Bewegungen" sowie die neutralere Bezeichnung "religiöse Sondergruppen-Gemeinschaften". Psychotherapeutisch ausgerichtete Unter-nehmungen, bei denen psychische Manipulation angenommen wird, werden auch "Psychokulte" oder "Psychogruppen" genannt. Gruppen mit politischer Zielsetzung haben auch die Bezeichnung "politreligiöse Jugendsekten" erhalten. Die von staatlichen Stellen herausgegebenen Informationen verwenden häufig die Begriffe "neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen" oder setzen vor die Worte "Sekten" und "Psychogruppen" ein "sogenannt" oder die Begriffe in Anführungszeichen.

Der Begriff "Sekte" selbst ist also, entgegen seiner anscheinenden Selbstverständlichkeit, vieldeutig und deshalb problematisch.

2.2.1 Historische Bedeutung des Sektenbegriffs

Sprachlich kommt das Wort von lateinisch sequi, folgen, und ist die Übersetzung von griechisch hairesis, Wahl, Gefolgschaft. Mit ihm wurden in der Antike zunächst diejenigen bezeichnet, die einem bestimmten Philosophen in seinen Anschauungen folgten. In der Geschichte des Christentums wurden damit die Gruppen bezeichnet, die außerhalb der Kirche einem bestimmten Glaubensführer und für abweichend erklärten Glaubenslehren oder Praktiken anhingen. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (vgl. z. B. die Konstitution Ad Deus des Kaisers Friedrich II von 1220) wurde das "widerspenstige Anhängen" an eine "Sekte" in Acht getan und mit dem Tode bestraft (vgl. z. B. Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507, Artikel 30). Diese Kriminalisierung der Sektenzugehörigkeit im Mittelalter folgte daraus, daß jede Form abweichenden Glaubens als gesellschaftlich und staatlich nicht hinnehmbares Delikt verstanden wurde. Dadurch wurde aus einem religiösen Abweichen ein kriminelles Delikt, wie der protestantische Theologe P. Tillich schrieb: "Wer gegen das kanonisierte Dogma verstößt, (ist) nicht nur ein Häretiker, der den Grundlehren der Kirche widerspricht, sondern auch ein Verbrecher gegen den Staat". Daneben gab es freilich auch ein neutrales Verständnis von "Sekte", so wenn Roger Bacon (im 13. Jhd.) und Nikolaus von Kues (im 15. Jhd.) von "secta Christiana" sprechen. Eine eindeutig negative Zuspitzung scheint der Begriff "Sekte" im 16. Jahrhundert erhalten zu haben, besonders als er zur Bezeichnung derjenigen christlichen Gemeinschaften verwendet wurde, die ohne reichsrechtliche Legitimation neben den anerkannten Religionsparteien sich bildeten. Solche Auffassungen und Einrichtungen wurden mit der Erklärung der Religionsfreiheit in den europäischen Staaten überwunden. Das Grundgesetz (GG) kennt nur religiöse Vereine (Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Weimarer Reichsverfassung - WRV - ), Religionsgesellschaften (Art. 140 GG) und Religionsgemeinschaften (Art. 7 GG), wobei zwischen Religionsgemeinschaften und Religionsgesellschaften kein inhaltlicher Unterschied besteht; eine Staatskirche besteht nicht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV). Staatsrechtlich gibt es mithin in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen Kirche und anderen religiösen Organisationsformen. Der Begriff der Kirche ist dadurch auch nicht mehr "geschützt", so daß sich nun jede Organisation als Kirche bezeichnen und ihn irreführend verwenden kann.

2.2.2 Sektenbegriffe aus der Wissenschaftsgeschichte

In engem Zusammenhang mit der historischen Bedeutung des Sektenbegriffs steht der theologische Sektenbegriff. Dieser legt bestimmte Kriterien zugrunde, z. B. Anerkennung anderer Offenbarungsschriften als die kanonisierte Bibel und anderer Offenbarungsformen, ein anderes Glaubensbekenntnis, ein anderes Verständnis apostolischer Sukzession, im Protestantismus heute auch Mitgliedschaft im Weltkirchenrat etc. Der theologische Begriff der "Sekte" ist aufgrund der staatlichen Neutralität in Religions- und Weltanschauungsfragen für die Enquete-Kommission unerheblich.

Max Weber und Ernst Troeltsch haben für ihre Untersuchungen zur Geschichte des Christentums und der damit verbundenen Entwicklung des "modernen Kapitalismus" in einer bestimmten historischen Situation den Begriff der Kirche und den der "Sekte" durch verschiedene Merkmale - "idealtypisch" - bestimmt; z. B.: in eine Kirche wird man hineingeboren, in eine Sekte muß man eintreten; eine Kirche hat einen universalen Anspruch, eine Sekte nur einen partialen; in einer Kirche haben die Funktionsträger in der Regel ein Amtscharisma, in einer Sekte müssen sie sich durch persönliches Charisma ausweisen usw. Diese Bestimmungen sind als Analysen einer bestimmten historischen Situation entstanden und für die in der Kommission behandelten Probleme unerheblich.

2.2.3 Umgangssprachliche Verwendung des Begriffs "Sekte"

Der umgangssprachliche Sektenbegriff, d. h. die Verwendung des Begriffs in der öffentlichen Diskussion, ist äußerst facettenreich und erfährt zudem eine immer größere Ausweitung. In der Öffentlichkeit wird der Begriff "Sekte" weiterhin zur Bezeichnung religiöser Inhalte verwendet. Zudem umfaßt der umgangssprachliche Begriff auch solche Gruppierungen, die in der Literatur mit der Bezeichnung "neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen" belegt werden. Gleichzeitig werden mit dem Begriff solche Gruppierungen in Verbindung gebracht, mit denen gesellschaftliche Konflikte der verschiedensten Ausprägungen entstehen, auch wenn die Gruppierung weder eine religiöse noch eine weltanschauliche Prägung, sondern beispielsweise eine eher politische oder psychotherapeutische Ausrichtung hat. Umgangssprachlich wird insofern auch nicht konsequent zwischen "Sekte" oder "Psychogruppe" differenziert.

Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß in der Öffentlichkeit diejenigen Gruppen als "Sekten" bezeichnet werden, von denen angenommen wird, daß sie von den noch existierenden gemeinsamen Überzeugungen und Lebensformen abweichen. Dabei geht es überwiegend um ethische Überzeugungen, die den Umgang mit dem Menschen betreffen. Begriffe wie Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, Toleranz, Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung bezeichnen die Orientierungspunkte, an denen gesellschaftlich tolerierbares Handeln und Verhalten gemessen wird. In der Umgangssprache bezieht sich der Begriff "Sekte" daher zunehmend auf Gruppen, denen vorgeworfen wird, in Lehre und Praxis systematisch gegen diese Orientierungen zu verstoßen, statt Entfaltungsfreiheit Abhängigkeit zu produzieren, die Menschen zu entwürdigen und zur Intoleranz anzuleiten usw.

Die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs stößt auf mehrere Schwierigkeiten. Zum einen läßt sie sich sprachlich nicht gegen andere Ausprägungen des Sektenbegriffs abgrenzen, so daß etwa eine in ihrem Kontext korrekte theologische Verwendung des Begriffs für eine Gruppe in den Medien die Gefahr in sich birgt, den Eindruck zu erwecken, es handele sich um eine in diesem Sinne konfliktträchtige Gruppierung. Zum anderen kann durch die Etikettierung einer Gruppe mit dem umgangssprachlichen Sektenbegriff transportiert werden, die Gruppe sei konfliktträchtig, sie erzeuge etwa Abhängigkeiten bei ihren Mitgliedern oder sei in anderer Weise gefährlich, obwohl ggf. von den Mitgliedern selbst oder anderen Betroffenen der Sachverhalt anders wahrgenommen wird. Der umgangssprachliche Sektenbegriff leidet damit an einer erheblichen inhaltlichen Undifferenziertheit.

Die Enquete-Kommission hält ihn aus diesen Gründen für in hohem Maße kritikwürdig und verwendet ihn im folgenden nicht.

2.2.4. Sozialwissenschaftliches Verständnis des Phänomens

In der soziologischen und sozialwissenschaftlichen Literatur wird im Blick auf die hier angesprochenen Fragen eine "Sekte" bestimmt durch das Maß, in dem sie in Spannung, Widerspruch und Gegensatz zu ihrer Umwelt steht. Dieses sozialwissenschaftliche Verständnis, das sich inhaltlich mit der in der Öffentlichkeit verwandten umgangssprachlich benutzten Begrifflichkeit berührt, ist hier allein relevant.

Ausgehend von dem sozialwissenschaftlichen Verständnis könnte unter "Sekte" hier eine kleine, exklusive, religiöse oder weltanschauliche, wissenschaftliche oder auch politische Gruppe verstanden werden, die von ihren Anhängern ein totales Engagement fordert und die dabei ihre Trennung von der Umwelt und deren Zurückweisung besonders betont.

Kennzeichnend für eine sogenannte "Sekte" ist mithin eine besondere, extreme Ausformung ihrer Innen- und Außenbeziehungen. Das Merkmal der betonten Abtrennung von der Umwelt betrifft dabei prinzipiell die gesamte Gruppen- oder Gemeinschaftskultur mit ihren verschiedenen Aspekten.

Je nachdem, welche Phänomene dieser Kultur bzw. welche Interaktionsebene der Gruppe von außen auf dieses Merkmal hin untersucht werden, ergeben sich jedoch verschiedene Schwerpunkte bei den Bestimmungen des Begriffs "Sekte". Berücksichtigt man bevorzugt die Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie lebt, vor allem die Ablehnung des vorherrschenden Wertesystems und der staatlichen Rechtsordnung in Theorie und Praxis, nähert man sich dem säkularen Sektenbegriff, wie er in der öffentlichen Diskussion vorherrscht. Berücksichtigt man jedoch zum Beispiel bevorzugt die Zurückweisung der religiösen bzw. theologischen Umwelt durch die Gruppe (oft vor allem ihrer eigenen geistigen Herkunft) auf der Ebene von Glaube und Ideologie, nähert man sich einem religionswissenschaftlichen oder theologischen Sektenbegriff. Dann wird die Spannung zwischen der Gemeinschaft und ihrer Umwelt schwerpunktmäßig religions- und ideengeschichtlich bestimmt.

Es handelt sich hierbei immer um einen sogenannten Relationsbegriff, mit dem das Verhältnis zwischen einer Gesellschaft und der in sie eingebetteten Minderheit, die in Spannung zu der Gesellschaft steht, beschrieben wird. Ob eine Minderheit in einer Kultur als Sekte qualifiziert wird, ist deshalb auch immer eine Frage des kulturellen Standpunktes und von Wertentscheidungen.

Man muß auch hier festhalten, daß sich aus der unterschiedlichen Akzentuierung des Sektenbegriffs Spannungen ergeben. So werden einige Gruppen aus religiöser Sicht als Sekten eingestuft, die vom sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus, wegen ihrer relativ gelungenen Anpassung an den alltäglichen Lebensvollzug ihrer bürgerlichen Umwelt, dagegen nicht (oder jedenfalls nicht sachgemäß) als Sekten angesehen werden.

2.2.5 Zusammenfassung

Die unterschiedliche Herkunft und der unterschiedliche Gebrauch des Begriffs "Sekte" macht seine Verwendung, außer in klar umschriebenen Zusammenhängen (etwa theologischer oder religionswissenschaftlicher Art), sehr problematisch. Zur Abgrenzung von "konfliktträchtigen" gegenüber "nicht konfliktträchtigen" Gruppen ist er kaum geeignet. Er gibt zudem nichts her zur Kennzeichnung konkreter Konflikte. Für den staatlichen Gebrauch ist er nicht geeignet, d. h. auch nicht für diesen Bericht.

2.3 Zum Begriff der "Psychogruppe"

Der Begriff "Psychogruppe" hat sich in den letzten Jahrzehnten zur Bezeichnung der "vielfältigen psychologischen und pseudopsychologischen Angebote zur Lebenshilfe, Lebensorientierung und Persönlichkeitsentwicklung außerhalb der fachlichen Psychologie und des Gesundheitswesens" verbreitet. Darunter fallen so verschiedene Dinge wie psychologische Erfolgskurse für die Wirtschaft, esoterische Beratungsangebote zur Bewältigung von Geldproblemen, Astralreisen, medialer Kontakt mit außerirdischen Intelligenzen und Rückführungen in frühere Leben. Für diese und andere Ziele werden eine Vielzahl von Methoden angeboten: Therapien mit Anleihen aus traditionellen Psychotherapieschulen; Emotions- und Körpertherapien (z.B. Primärtherapie, Rebirthing); spirituelle Angebote mit therapeutischem Anspruch (z.B. Reiki, Reinkarnationstherapie); Einsatz von technischen Geräten im Bereich der Esoterikszene (z. B. mind-machines, Bioresonanz); Naturheilmethoden mit spirituellem Hintergrund (z. B. Aromatherapie, Bachblütentherapie); magische und okkulte Praktiken (z. B. Telepatie, Psychokinese, Pendeln, Tarot); Naturreligionen; mystische und spirituelle Traditionen; esoterische Seelsorge oder Lebensberatung.

Diese Methoden haben gemeinsam, daß sie neben ihrer Praxis in Gruppen auch gewerblich als Lebensbewältigungshilfe und zur Persönlichkeitsveränderung benutzt werden. Außerdem dienen sie der Freizeitgestaltung, der Unterhaltung und der Befriedigung des Bedürfnisses nach sinnlichen und ästhetischen Erlebnissen. Es handelt sich um den Dienstleistungsbereich, der auch mit dem Etikett "Psychomarkt" bezeichnet wird. Neutraler könnte man von einer alternativen, nicht schulmäßigen Pädagogik, Psychologie und Psychotherapie sprechen, die neben den anerkannten Schulen betrieben wird, so wie es neben der Schulmedizin eine nicht schulmäßige Alternativmedizin gibt. Einige Verfahren dieses alternativen Psychomarktes werden auch von schulmäßigen Psychologen eingesetzt.

Bei der Inanspruchnahme derartiger Dienstleistungen liegt meist eine geschäftliche Kundenbeziehung vor. Es handelt sich in diesem Fall nicht um eine Beziehung vom Typ der Gemeinschaft oder einer Gruppe, und es ist deshalb in der Regel auch nicht sinnvoll, in diesem Fall von Mitgliedschaft zu sprechen. Zur "Psychogruppe" können derartige Beziehungen dann werden, wenn sich um einen "Lebenshilfedienstleister" ein fester Kundenstamm bildet, der von diesem oder dessen Unternehmen Leistungen dauernd in Anspruch nimmt. Aber auch dann bestehen aufgrund der beibehaltenen Kundenbeziehungen erhebliche Unterschiede zum Typ Gemeinschaft. Von einer Psychogruppe oder - schärfer - von einem Psychokult kann man nur dann sprechen, wenn von einem Anbieter und seinen Klienten ein gewisser dauerhafter Organisationsgrad erreicht wird und sich gruppentypische Innen- und Außenbeziehungen etablieren.

2.4 Ausprägungen der Konflikte mit "Sekten" und "Psychogruppen"

Das sozialwissenschaftliche Verständnis des Phänomens nähert sich - wie beschrieben - dem Gegenstand über die mit Gruppierungen entstehenden Konflikte. Hierauf soll im folgenden näher eingegangen werden.

Die besondere, extreme Ausformung der Innen- und Außenbeziehungen, d. h. die Spannung zwischen tendenziell "totaler" Innenwelt ("total groups") und Außenwelt ist mit den Begriffen "Isolation" und "Insulation" (Rückzug auf eine Insel) gekennzeichnet worden. Damit wird die Tendenz bezeichnet, sich gegenüber der Umwelt mehr oder minder umfassend zu isolieren und sich auf die eigene Welt zu beschränken. In diesem Sinn besteht dann die Tendenz, die gesamte Lebenswirklichkeit exklusiv - ideell, kulturell, sozial, unter Umständen auch wirtschaftlich, politisch - in die Innenwelt der jeweiligen Gruppe zu verlagern bzw. sie exklusiv aus dem hier geltenden und praktizierten Lebenswissen und dessen Quellen zu begründen und zu normieren. Hieraus resultieren die meisten Konflikte.

Entsprechend betrifft ein besonderes Element der Konfliktträchtigkeit in der Innen- und Außenbeziehung Weltanschauung und Lebenspraxis, also "dissidente Weltanschauungen" und "deviante Lebensformen". Gemeint sind damit von den sozial-kulturell allgemein akzeptierten oder zumindest tolerierten Lebensanschauungen und Wertüberzeugungen deutlich abweichende Überzeugungen und eine von allgemein praktizierten oder zumindest tolerierten Lebensformen signifikant abweichende Lebenspraxis. Bleibt diese Umschreibung zunächst abstrakt-allgemein, zeigt sich in der Auseinandersetzung mit Gruppierungen doch häufig konkret, worin Konfliktpotentiale liegen. So kann die Aufgabe einer begonnenen Berufsausbildung oder eines ausgeübten Berufs zugunsten des Engagements in der Gruppe dazu führen, daß die finanzielle Abhängigkeit eines auch bereits erwachsenen Gruppenmitglieds von seinen Eltern oder seinem Lebenspartner länger als üblich bestehen bleibt oder aber die Berufsaufgabe diese Abhängigkeit erst wieder herstellt. Ist die Herkunftsfamilie, die eigene Familie oder der Freundeskreis einer Person, die sich einer Gruppe neu anschließt, nicht gewillt, sich der Gruppe und dem Engagement des neuen Mitglieds gegenüber positiv zu verhalten, kann es zu familiären Auseinandersetzungen oder auch zu Trennungen mit allen damit zusammenhängenden Konflikten kommen. Befremdlich können Außenstehenden beispielsweise auch die Zuweisungen von Partnern durch eine Gruppe erscheinen. Weitere Felder, in denen Konflikte mit Außenstehenden auftreten können, sind der Umgang der Gruppe mit Sexualität, das Verständnis von Ehe und Familie, Fragen der Kindererziehung, Einstellungen zu Wirtschaft und Politik, das Verhältnis zur persönlichen Freiheit des Einzelnen und anderes. Auch wenn es sich hierbei oftmals um Bereiche handelt, in denen das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Anspruch genommen wird, so kann die Wirkung plötzlich geänderter Auffassungen und Verhaltensweisen eines Menschen auf seine Umwelt nicht übergangen werden. In diesem Sinne werden die Gruppierungen von der Umwelt als konfliktträchtig, weil Auslöser solcher Änderungen, wahrgenommen.

Die Merkmale der Innen- und Außenbeziehungen einer Gruppe wie "totales Engagement" nach innen und "Abtrennung von der Umwelt" lassen verschiedene Abstufungen zu, so daß sich nach der obigen Definition zwar ein Typus des in diesem Sinne Sektiererischen bestimmen läßt, nicht jedoch klare Grenzen zwischen einer sektiererischen und einer nicht-sektiererischen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft.

Zusammenfassend ist zu sagen: Die Konfliktträchtigkeit der in diesem Sinn als sektiererisch angesehenen Gruppen gründet meist in der Verbindung der genannten Aspekte - Exklusivität, totales Engagement, Trennung von der Umwelt und deren Zurückweisung ("Isolation" und "Insulation") - mit "dissidenten Weltanschauungen" und "devianten Lebensformen". Aus diesen Aspekten können - nicht müssen - problematische Konstellationen und Reaktionen, somit unter Umständen erhebliche Konflikte, resultieren. Die Gefahren einer sich ins Extreme entwickelnden Isolation und Insulation werden insbesondere an Beispielen deutlich, die in der Öffentlichkeit große Beachtung gefunden haben. Hierzu gehören z. B. die Tötungsdelikte und Massenselbstmorde der Gruppen People's Temple (Guayana), Heaven's Gate, (Kalifornien), Sonnentempler (Schweiz, Frankreich, Kanada), Aum-Shinri-kyô (Japan).

2.5 Der Sektenbegriff und religiöse Konflikte

Gegen einen undifferenzierten Gebrauch des Begriffs "Sekte" ist darauf hinzuweisen, daß eine gewisse Konfliktträchtigkeit für die Umwelt zu den Eigenschaften religiöser Orientierung und religiöser Vergesellschaftung gehört. Denn religiöse (und nicht selten auch weltanschauliche) Gemeinschaften erheben selbstverständlich Forderungen nach einer bestimmten Lebensführung sowie Wahrheitsansprüche gegenüber konkurrierenden Deutungen von Mensch und Welt. Ähnliches gilt für neuzeitliche Ideologiebildungen mit Weltanschauungscharakter, die auf wissenschaftlicher bzw. pseudowissenschaftlicher Basis ihr Recht auf die verbindliche Interpretation der Totalität menschlicher Existenz anmelden. Daraus können sich zum Teil tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte ergeben, wie die Geschichte religiöser und ideologischer Bewegungen zeigt.

Ferner ist zu bedenken: Da Religionen nach eigenem Selbstverständnis auch eine kritische Aufgabe gegenüber der Gesellschaft und dem Staat haben können, stehen sie unter Umständen in Spannung, bisweilen sogar in scharfem Widerspruch zu Staat und Gesellschaft. Religionen implizieren also, da sie auch sagen, was man nicht tun darf, in dieser oder jener Form eine Distanz oder Kritik gegenüber bestehenden Verhältnissen.

Zudem agieren in auftretenden Konflikten nicht nur die dissidierenden Gemeinschaften, sondern auch die konkurrierenden und die bereits etablierten Sinninstanzen sowie andere politische und kulturelle Institutionen der Gesellschaft. Aus all diesen Gründen ist zu sagen, daß jeder Konflikt mit "konfliktträchtigen Religionen" auch zu Rückfragen an unsere Gesellschaft führen kann, nicht nur zu kritischen Anfragen an die betreffende Gruppierung. Solche Konflikte sind und waren oder können auch immer ein Moment des gesellschaftlichen Wandels sein.

Es darf nicht unterschlagen werden, daß die fortschreitenden Modernisierungen und kulturellen Verunsicherungen gerade für traditional religiöse Lebensformen erhebliche Belastungen darstellen, so daß verstärkte Abschließungen oder sogar Abwehr von Modernisierung auch den Versuch darstellen können, diese Modernisierungslasten zu bewältigen. Lebens- und Erziehungsorientierungen im Rahmen weltanschaulich-religiöser Sondergemeinschaften stehen häufiger in einem mehr oder weniger starken Spannungsverhältnis zu den Prinzipien einer modernisierten Lebensführung, wie sie für die Bewältigung der sozialkulturellen Anforderungen in den westlichen Gesellschaften erforderlich sind. Deshalb können Destabilisierungen und Enttraditionalisierungen auch dazu führen, daß Menschen entgegen den Forderungen und Lasten, selbstverantwortlich, offen, mobil und reflexiv zu sein, neue Einbindungen und Sicherheiten im Sinne einer "religiös-ontologischen Beheimatung" suchen. Diese Bewältigungsversuche dürfen keineswegs nur eindimensional als - gegenüber den modernen Prinzipien - "defizitäre Lebensformen" interpretiert und die Träger als "gefährliche Sekten" bezeichnet werden.

2.6 Staatliche Verwendung des Sektenbegriffs

Gleichwohl könnte man für das Theorie- und Praxisfeld der Politik und des Rechts aus der Vielfalt der Begriffe einen engeren Begriff der "Sekte" konstruieren. Hier würden als "Sekten" solche religiösen Gruppierungen und Lebenshilfeorganisationen bezeichnet, die in ihren Lehren und Praktiken mit den Grundsätzen des Grundgesetzes, seinem Menschenbild, seiner Rechtsordnung, seinen Wertevorstellungen usw. nicht vereinbar sind und eine andere gesellschaftliche Ordnung als das Grundgesetz proklamieren und anstreben. Oder man könnte in Anschluß an die sozialwissenschaftliche Deskription des Phänomens solche Gruppierungen als "Sekten" bezeichnen, bei denen das Ausmaß an Abschließung, Innen-Außen-Spannung etc. zu einer hohen, gewissermaßen ständigen Konfliktträchtigkeit führt.

Eine staatsrechtliche Einführung des ohnehin geschichtlich belasteten Sektenbegriffes würde die Gefahr bergen, daß das für den ständigen Erneuerungsprozeß der Gesellschaft erforderliche kritische Potential eingeschränkt werden könnte - das Entstehen neuer Religiosität kann auch als Reaktion auf Defizite in der Gesellschaft als Indikator für gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklungen und die damit verbundenen Probleme gesehen werden.

Eine staatsrechtliche Einführung des geschichtlich belasteten Sektenbegriffes birgt vor allem aber die Gefahr oder Tendenz in sich, über den Begriff der "Sekte" die Religionsfreiheit aufzuheben oder zu beschränken. Religion ist in der Moderne zu einer staatsfreien Angelegenheit geworden. Dennoch unterliegt die Ausübung der Religionsfreiheit einem rechtlichen Rahmen, der jedenfalls durch verfassungsimmanente Grenzen vorgegeben ist. Neben der Religionsfreiheit stehen andere geschützte Rechtsgüter mit Verfassungsrang; im Kollisionsfall ist durch eine Güterabwägung festzustellen, welchem Rechtsgut - bezogen auf den konkreten Einzelfall - der Vorrang gebührt.

Für die Zwecke der neutralen Beschreibung und Analyse sind deshalb die Bezeichnungen "neue religiöse und ideologische Gemeinschaften" sowie die Bezeichnung "Psychogruppe" für das Feld zutreffender. Allerdings sind auch solche allgemeinen Bezeichnungen nicht unproblematisch. Kurze, prägnante Formulierungen zur Kennzeichnung des ganzen vielfältigen Spektrums der betreffenden Gruppen sind nicht möglich. So umfaßt dieses Spektrum auch Gruppen, die nur vorgeblich religöse oder weltanschauliche Gemeinschaftsbildungen darstellen. In diesem weiten Feld von Gruppen und Bewegungen, die aus verschiedenen Blickwinkeln als "Sekte" bezeichnet werden, sind nur eine beschränkte Anzahl derart und dauerhaft konfliktträchtig, daß sie dem Extrembild entsprechen, das von den neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen herrscht.

Darüber hinaus bietet es sich an, der Klarheit wegen bei der Betrachtung einzelner Konfliktfelder spezifischere Bezeichnungen zu benutzen. Vorgeblich religiöse Gemeinschaften mit überwiegend wirtschaftlichen Zielen können in Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch als kommerzielle Kulte charakterisiert werden, ideologische Gemeinschaften als Politgruppen usw. In der wissenschaftlichen Literatur ist die Bezeichnung "Neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen" (NRBs) gebräuchlich.

Die Enquete-Kommission verwendet zur angemessenen und neutralen Beschreibung des Sachverhalts die Bezeichnungen "neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen". Damit kann sie auch der notwendigen Differenziertheit gerecht werden.

2.7 Zusammenfassung

Das Feld des gesetzgeberischen und allgemein staatlichen Handelns kann nicht durch den vieldeutigen Begriff der "Sekte" bestimmt werden. Es muß deshalb auf andere Weise erfaßt und begrenzt werden. Das gilt auch für den Begriff der "Psychogruppe". Staatlicher Handlungsbedarf kann nur anhand der realen Beziehungen einer Gruppe zur gesellschaftlichen Umwelt festgestellt werden. Handlungsbedarf entsteht selbstverständlich nur durch die gesellschaftlichen Wechselwirkungen der Ablehnung der sozialen Umwelt, des totalen Engagements von Gruppenmitgliedern usw., und er wird in aller Regel nur bei sehr deutlicher bis extremer Ausprägung dieser Merkmale gegeben sein. Der Sachverhalt, daß es einen allmählichen Übergang von einer starken Betonung konfliktauslösender Eigenschaften einer Gruppe bis hin zur gelungenen Integration und Anpassung einer Gruppe gibt, sollte weder als Argument dafür benutzt werden, dem Staat auch im Fall starker Konflikte Handlungsmöglichkeiten abzusprechen, noch dazu, die von unserer Grundordnung vorgegebenen Freiheitsräume religiöser und weltanschaulicher Gruppen einzuengen. Der Handlungsspielraum des Staates erstreckt sich vielmehr einerseits auf Maßnahmen im Falle von Verstößen gegen geltendes Recht und der Gefährdung von geschützten Rechtsgütern. Andererseits gibt es Bereiche des sozialen Lebens, die nach der freiheitlichen Grundordnung von staatlicher Reglementierung frei bleiben sollen. Hierzu gehört insbesondere die persönliche innere und äußere Lebensgestaltung und die Auswahl des Lebensmilieus.

Die Konflikte, die durch die sozialen Handlungen im Zusammenhang mit neuen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften und Psychogruppen, in Einzelfällen auch nur von Individuen, ausgehen, lassen sich insbesondere in drei Bereiche unterteilen:

a) Verstöße gegen geltendes Recht,

b) Machtmißbrauch bei der Ausnutzung von rechtsfreien Räumen, durch die
es zu einer Rechtsgütergefährdung kommt. Hier besteht staatlicher Rege-
lungsbedarf,

c) Verstöße gegen die sich aus der Grundwerteordnung abgeleiteten guten Sitten und sozialen Verpflichtungen.

In diesem Bereich ist staatliches Handeln nötig und möglich. Diese Konflikte sind Gegenstandsbereich der Enquete-Kommission.

Gegenstand der Enquete-Kommission waren mithin nicht die Gruppen selbst, sondern näher bestimmte soziale und konfliktauslösende Handlungen von Personen, konkret von Personen in Gruppen, die überwiegend einen religiösen oder weltanschaulichen Status beanspruchen oder einen solchen zugeschrieben bekommen. Dabei ist auch der Grundsatz der Konvention des Europarates vom 04.11.1950 zu beachten, daß "die Religions- und Bekenntnisfreiheit nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein (darf), die in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen Maßnahmen (BGBl. 1952 II, 685 und 953) im Interesse der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind."

Dies heißt nicht nur, daß es keine die Religionsfreiheit einschränkenden Sonderbestimmungen für Religionsgemeinschaften geben darf, sondern zugleich auch, daß die Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder sich selbstverständlich auch an bestimmte, für jedermann geltende Regeln zu halten haben. Der Wortlaut des Grundgesetzes, der keinen allgemeinen Gesetzesvorbehalt für die Religionsfreiheit vorsieht, erscheint insoweit weniger konkret. Es besteht aber Einigkeit darüber, daß Religionsfreiheit insbesondere dort an ihre Grenzen stoßen kann, wo verfassungsmäßige Rechte anderer verletzt werden. Jedenfalls ist eine Umgehung oder Außerkraftsetzung der Rechtsordnung durch die Berufung auf die Religionsfreiheit nicht möglich.