3.3 Gruppenstrukturen, Aktivitäten und Ziele

3.3.1 Möglichkeiten und Grenzen einer typologischen Darstellung

Entsprechend der Absicht, weitgehend auf die Benennung konkreter Gruppen zu verzichten, ist die folgende Darstellung von Gruppenstrukturen, Aktivitäten und Zielen typologisch. Sie will allgemeine, wesentliche und spezifische Merkmale erfassen, zugleich konkrete Besonderheiten beachten. Aus den Gruppenanhörungen der Kommission ergibt sich u. a. die folgende Darstellung. Ein besonderer Zugang hier sind die Konflikte bzw. die Konfliktträchtigkeit von Gruppen im weiteren gesellschaftlichen Kontext. Dabei darf nicht übersehen werden, daß es sich in der Regel nicht um Konfliktträchtigkeit handelt, die religiösen und weltanschaulichen Gruppen spezifisch eigen ist, sondern ebenfalls in anderen gesellschaftlichen Bereichen sich vorfinden läßt. Allerdings gibt es auch spezifische, durch religiöse oder weltanschauliche Ansprüche bedingte Konflikte.

Die typologische Darstellung erfaßt Merkmale, die zunächst fast durchgängig für Religionen, religiöse und weltanschauliche Gruppen, Gemeinschaften, Bewegungen gelten (können) und insofern unproblematisch sind. Auf dieser allgemeinen Ebene können Konflikte und Konfliktträchtigkeit nicht angemessen beschrieben und bewertet werden. Auch kann ein Teil hier möglicher Konflikte und Konfliktkonstellationen zur Normalität religiöser Konversion und Sozialisation gehören und ist deshalb -zumindest grundsätzlich und vor allem staatlich - zu tolerieren. Es bedarf deshalb in erheblichem Umfang der differenzierten Darstellung, die die konkreten Konflikte miteinbezieht. An ihnen wird deutlich, daß bestimmte, konkretisierbare Gruppenstrukturen als unangemessen, problematisch, gefährlich etc. erscheinen, weil sie dazu dienen, bestimmte konkrete Ziele mit bestimmten konkreten Aktivitäten zu erreichen (vgl. dazu 3.3.5).

Ferner besteht zum anderen die Gefahr unzulässiger Verallgemeinerung. Es werden dann entweder die konfliktträchtigsten und organisatorisch entwickeltsten Gruppen zum Modell und Paradigma gemacht oder konfliktträchtige Merkmale in Strukturen, Aktivitäten und Zielen additiv beschrieben und dabei der Eindruck erweckt, die so erzielte Summe von Negativmerkmalen treffe alle Gruppen und alle in gleicher Weise. "Die Sekten" sind dann unterschiedslos "totalitär", "rigide hierarchisch" etc. organisiert, betreiben "aggressive Werbung" oder "Mission", verfolgen zugleich oder eigentlich ökonomische und politische Ziele und sind zumindest tendenziell an einem internationalen/ weltweiten Einfluß - oder Machtsystem orientiert, haben dies unter Umständen schon stellenweise realisiert. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, daß selbst offensichtliche Mißbräuche mit religiösen und ideologischen Motiven gerechtfertigt werden.

Man muß deshalb gleich zu Anfang feststellen:

- Einige Gruppen besitzen eine effektive weltweite oder internationale Organisation mit entsprechenden Strukturen.

- Nicht alle international oder weltweit organisierten Gruppen sind in gleicher Weise konfliktträchtig .

- Fast alle hier in Frage kommenden Gruppen, auch die weltweit vertretenen, sind Minderheiten, sowohl im Weltmaßstab wie in den einzelnen Staaten. Allerdings
können auch von Minderheiten Gefahren für einzelne Personen und/oder die Gesellschaft ausgehen.

- Gruppen mit universalen Zielen und internationalen Ambitionen verfügen nicht immer notwendig über diesen Zielen und Vorstellungen entsprechende wirksame Strukturen und Einflußbereiche.

- Viele Gruppen bewegen sich in Zwischenbereichen zwischen Formen informeller Organisation und stabiler Institutionalisierung.

- Auch Klein- und Kleinstgruppen mit überwiegend informeller Organisationsstruktur oder begrenzter lokaler Verbreitung können von hoher Konfliktträchtigkeit sein und entsprechend in ihrem nur beschränkten Einflußbereich erhebliche Konflikte hervorrufen.

In der folgenden allgemeinen Beschreibung finden sich Elemente jeder Gruppen- und Gemeinschaftsbildung und die Grundelemente der Bildung von religiösen oder weltanschaulich-ideologischen Gruppen und Gemeinschaften. Diese sind zunächst als grundsätzlich unproblematisch anzusehen, zumindest im Blick auf staatliches Handeln.

Eine mögliche oder latente allgemeine Konfliktträchtigkeit religiöser sowie weltanschaulich-ideologischer Gruppen- und Gemeinschaftsbildung muß in Rechnung gestellt werden. Sie liegt im besonderen Anspruch von Religion und Weltanschauung vor allem auf Lebensführung und Lebensform. Besondere Konfliktlagen entstehen dann, wenn belastende bzw. radikale Orientierungen auf verletzliche Personen und Verhältnisse treffen.

Die folgende Darstellung beschreibt also einen vielfach anwendbaren Rahmen, der der Ausfüllung durch konkrete Konfliktkonstellationen und Konfliktmuster bedarf.

3.3.2 Strukturelemente neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen im Überblick

Am Anfang der Gründung vieler, wenn nicht der meisten religiösen und weltanschaulichen Gruppen steht ein Wechselverhältnis von Personen, Ideen, Intentionen und Praktiken religiöser sowie weltanschaulich-ideologischer Natur, ein mehr oder minder informelles Netz von Beziehungen. Im Zuge der Entwicklung zu eigentlichen Gruppen lassen sich in der Regel diese Elemente feststellen und einander zuordnen.

Auch die Genese von Psychogruppen, wie auch von Mischtypen mit Merkmalen gewinnorientierter Wirtschaftsunternehmen, von politischen Extremgruppen etc. kann ähnlich verlaufen, dies gilt auch für die weiteren Entwicklungsschritte:

- Eine als Leiter, Meister, Offenbarungsquelle, Heils- oder Heilungsvermittler angesehene Person als zentraler Bezugspunkt.

- Ideen, Lehren, Überzeugungen, Anschauungen etc. ganz unterschiedlicher Natur - wie: Offenbarungen, Visionen, Auditionen, Lebensregeln, soziale, kulturelle, ökonomische, politische Überzeugungen und Ziele - und unterschiedlicher Herkunft, die mehr oder minder von der als Bezugspunkt gesehenen Zentralperson stammen oder auf diese zurückgeführt werden.

- Alternativ oder eng damit verbunden, rettende, heilsame, heilende, im weitesten Sinn förderliche Wirkungen, Kräfte, Energien etc., die von der Zentralperson ausgehen.

- Praktiken und Rituale.

- Eine Gefolgschaft, deren Beziehungen zueinander von den Beziehungen zu den bislang genannten Elementen wesentlich mitbestimmt oder gar überlagert werden.

- Unterscheidungen in der Gefolgschaft nach fester oder gelegentlicher Zugehörigkeit (Sympathisanten, Mitläufer etc.), nach Nähe oder Ferne zur Zentralperson und oft damit verbundenen Kompetenzen lehrmäßiger, lebensbestimmender und administrativ-organisatorischer Natur.

- Eine mehr oder minder starke Abgrenzung gegenüber Außenstehenden, Nichtdazugehörenden und zugleich mehr oder minder intensive Beziehung nach innen, d.h. auf die Gefolgschaft und die sie tragenden Elemente (tendenziell: Gruppen bzw. Organisationsgrenzen als Wahrheitsgrenzen bzw. Lebens-/ Heilsgrenzen).

- Bei der Verfestigung von Gruppenstrukturen spielen nicht nur die
Anforderungen, die sich aus der Lehre ableiten und die daran anknüpfenden
gruppeninternen Handlungsorientierungen eine Rolle, sondern auch ihre
Wirkung in die weitere Gesellschaft und deren Reaktionen und Rückwirkungen.
Es kann zu Zielverschiebungen oder durch Ausgrenzungen entstandene
Deformierungen etc. kommen, die in der Interaktion von Gruppe und der
sozialen Umwelt ihre Ursachen haben.

Bei der Entwicklung von einer eher informellen Kleingruppe zu größeren und entsprechend organisierten Gruppen lassen sich sechs Phasen oder Aspekte unterscheiden und sind von besonderem Interesse:

a) Der Weg von einem informellen und nach außen wie innen noch diffusen Beziehungsgeflecht zur strukturierten Klein- und dann Großgruppe (mit u.U. auch verbindlichen Rechtsformen).

b) Die Bildung von Ablegern, d. h. anderen bleibend verbundenen Gruppen, meist an anderen Orten oder sogar in anderen Ländern.

c) Die Kodifizierung und Generalisierung von Lehre und Praxis.

d) Die Herausbildung einer größeren bzw. großen, unter Umständen international oder weltweit vorhandenen Organisation.

e) Die Gründung von Sub-, Neben- oder Tarnorganisationen mit unter Umständen Neben- oder Teilzielen kultureller, ökonomischer oder politischer Natur.

f) Die Nachfolgeregelung, d. h. der Übergang von der Gründungs-, Zentralperson auf eine andere oder mehrere andere Personen.

Jede der genannten Phasen kann spezifische Konflikte auslösen, innerhalb des religiös-weltanschaulichen Kontextes selbst oder darüber hinausgehend. Bei Lehre und Praxis ist wichtig, wie sie sich religiös, weltanschaulich, kulturell etc. in die jeweilige sozial-kulturelle Umwelt einfügen bzw. dazu in Beziehung setzen, z. B. zustimmend, ablehnend. Dies betrifft in ganz besonderer Weise die konkrete Lebenspraxis und die konkreten Lebensformen (z. B. Autoritäts-, Gehorsams-, Ehe-, Arbeits- und Familie- und Erziehungsfragen).

Eine allgemeine Kennzeichnung eher konfliktvermeidender versus eher konfliktfördernder Beziehungsbestimmungen ist schwierig. Eine wichtige Rolle scheint jedoch meist zu spielen, wie die zentrale Autorität (Meister, Lehrer etc.) ihr Verhältnis zur eigenen ideengeschichtlichen oder traditionellen Herkunft bestimmt und wie sie zu den anderen (nicht zugehörigen) Repräsentanten dieser Ideen, Traditionen, Verheißungen etc. steht.

Eine radikale Entwicklung wird besonders dann wahrscheinlich, wenn zwei Bedingungen zusammentreffen: Die Gemeinschaft erhebt erstens ihrem eigenen religiös/ideellen "Nahbereich" gegenüber einen exklusiven Vertretungsanspruch, sie meint, Verheißungen exklusiv zu vermitteln u. ä. Zweitens wird dieser exklusive Anspruch nicht durch tatsächliche Weiterentwicklungen, gewichtige Unterschiede usw. abgedeckt. Im Gegenteil sind die eigenen Ideen und Praktiken im Vergleich mit den Herkunfts-Traditionen einseitiger, enger und extremer ausgebildet, so daß der exklusive Anspruch nicht durch geistige oder praktische Substanz begründbar ist. In dieser Situation kann die zentrale Gestalt der Gemeinschaft (bzw. die Gemeinschaft selbst) ihre Selbstwahrnehmung durch eine psychische und soziale Radikalisierung stützen. Die entstehenden Konflikte dienen (zumindest anfänglich) der Identitätssicherung durch die Ausformung von Feindbildern usw. Die soziale Isolation und "Insulation" der Gemeinschaft sowie ihre Marginalisierung und Stigmatisierung entwickeln sich in einem Wechselspiel zwischen der sich radikalisierenden Gruppe und den Konflikt- bzw. Vermittlungsreaktionen der Umwelt. Beispiele sind

- die Entwicklung der Zeugen Jehovas unter Rutherford in den dreißiger Jahren des
20. Jahrhunderts
von einer locker organisierten Gemeinschaft "ernster Bibel-
forscher" zu einer autoritär strukturierten Organisation.

- die Entwicklung des VPM von 1986 bis ca. 1995 von einem jungen Anhänger-
kreis um eine charismatische Führungsgestalt (Friedrich Liebling) zu einer
ideologischen Psychogruppe.

Ein Abbau der Konflikte wird umgekehrt häufig dadurch möglich, daß sich im Lauf der Entwicklung die geistige und praktische Substanz der Gemeinschaft verändert, und/oder daß der Exklusivanspruch der Gruppe relativiert und eventuell sogar schließlich aufgegeben wird. Ein bekanntes Beispiel bildet die Entwicklung der Siebenten-Tags-Adventisten im Deutschland der Nachkriegszeit, die von einer exklusiven Sondergemeinschaft zu einer Freikirche führte.

Ferner ist für die Analyse konfliktträchtiger Entwicklungen auch wichtig, ob Lehre und Praxis religiös-weltanschaulich sowie ideologisch im engeren Sinn sind oder sich auch, erheblich oder sogar überwiegend auf andere Bereiche beziehen, d. h. Kultur, Wirtschaft, Politik. Es liegt in der Natur religiöser sowie weltanschaulich-ideologischer Konzeptionen, auch diese Bereiche miteinzubeziehen. Angesichts der Scheidung dieser Bereiche im modernen Staatswesen liegt hier allerdings eine besondere Problematik, die die Konfliktträchtigkeit zumal einiger der sogenannten Sekten und Psychogruppen erklärt. Dies betrifft in besonderem Umfang politische Extremgruppen. Zu sehen ist, daß ein (Groß)-Teil der in Deutschland vorhandenen international organisierten Gruppen die genannten Entwicklungsschritte an anderer Stelle absolviert hat (z. B. in den USA).

3.3.3 Darstellung typologisch generalisierter Gruppen

Folgend werden Entwicklungsschritte dargestellt. Die Darstellung orientiert sich an konkreten, aber typologisch generalisierten Gruppen.

a) Meister-Kreis

Im Zentrum neuerer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen steht häufig ein Meister/ eine Meisterin (Prophetin etc.) und ein um diese Person herum sich bildender Kreis. Die Gründergestalt kommt in der Regel nicht aus einem religiös-weltanschaulichen "Niemandsland", vielmehr werden bereits vorhandene religiöse, weltanschauliche oder allgemein kulturelle Überzeugungen aufgerufen und entweder neu interpretiert und aktualisiert oder aber unter Umständen entschieden, polemisch etc. zurückgewiesen. Aus dieser positiven oder negativen Bezugnahme auf das religiöse, weltanschauliche, kulturelle, soziale Umfeld resultiert ein Großteil der Plausibilität für den sich bildenden Anhängerkreis.

Charakteristisch für dieses aus vielen Traditionen bekannte Gründungsgeschehen ist die starke Bindung an den Meister, an den Kreis um ihn, an Lehre und Lebenspraxis etc., was zu tiefreichenden Veränderungen, Brüchen und Neuorientierungen privater, religiöser, sozialer, beruflicher etc. Art führen kann.

Die Strukturen in diesem Gründungskreis sind zunächst eher informell, es bilden sich in der Regel aber bereits informelle Stufungen, Hierarchien und Zugehörigkeitsformen heraus. Aktivitäten und Ziele sind auf die gemeinsame Pflege des neuen Wissens und der neuen Lebenspraxis gerichtet. Auch die Werbung hat oft einen mehr informellen Charakter (Mundpropaganda, einfache Handzettel etc.).

b) Vom Kreis zur Gruppe

Ein entscheidender Schritt zur Gruppen- oder Großgruppenbildung (auf terminologische Genauigkeit wird hier kein Wert gelegt) ist die Herausbildung von formellen Gruppenstrukturen. Sie resultieren oder können resultieren aus dem Bedürfnis, die Stellung des Gründers und des Kreises um ihn zu festigen. Dabei können die Ziele reichen von im engeren Sinn religiösen und weltanschaulichen Zielen bis zur bloßen Festigung von Macht und Machtausübung, mit fließenden Grenzen und Überschneidungen. Generell geht es darum, das Leben der Gruppe neuen Umständen anzupassen, etwa bei großem Wachstum, bei der Notwendigkeit, die Beziehungen zu auswärtiger Anhängerschaft und neuentstehenden Gruppen zu organisieren, aus dem Ziel, effizienter werben oder missionieren zu können etc.

Der entscheidende Impuls zur Herausbildung von formellen Strukturen geht häufig von der Gründungsgestalt selbst aus, liegt also in deren Sendungs- und Missionsbewußtsein, er kann aber auch bei einem Leiterkreis liegen, der die Gründungsgestalt sozusagen organisiert und "managt". Das zentrale Ziel und Interesse dieser Formalisierungsprozesse ist es, wesentliche Elemente der Gruppe auf Dauer und Kontinuität zu stellen: nach innen und außen, durch Sicherung der (exklusiven) Stellung des Gründers, von Lehre und Lebenspraxis, über räumliche Entfernung, bei der missionarischen Expansion und zu deren effizienterer Gestaltung, ferner durch Kompetenz- und Zugehörigkeitsregelungen. Mit dieser Phase der Stabilisierung und Institutionalisierung finden statt oder können stattfinden auch rechtliche Regelungen, intern wie im zivilrechtlichen Sinn (d. h. Gründung eines Vereins, finanzielle Regelungen etc.).

Mit dieser Phase ist die Herausbildung einer neuen Organisation grundsätzlich abgeschlossen, was weitere Institutionalisierung - etwa bei räumlicher Expansion und weiterem zahlenmäßigen Wachstum, beim Tod des Gründers etc. - nicht ausschließt. Charakteristisch sind Formalisierung und Stabilisierung einerseits, Ausdifferenzierung andererseits. Mit Formalisierung, Stabilisierung und Ausdifferenzierung können sich verbinden unterschiedliche, auf Dauer gestellte Macht-, Einfluß- und Bestimmungsstrukturen und -ebenen, damit verbundene Kompetenzen bezüglich Festlegung von Aktivitäten und Zielen, Überordnungs- und Unterordnungs- sowie Abhängigkeitsverhältnisse, Aufgabenverteilung, Fixierung von Zugehörigkeits- , Status- und Mitbestimmungsregelungen etc. Bei der Bildung von Ablegern, d. h. lokal getrennten Teilgruppen, ist von Bedeutung, wie dabei das Verhältnis von Zentrale/Mutterorganisation zu den Teilgruppen organisiert wird. Bei einem Großteil der überregional und langfristig konfliktträchtigen Gruppen handelt es sich um stabile, strukturierte und ausdifferenzierte Organisationen. Eine Verstärkung in der ausgehenden Richtung, d. h. auf Formalisierung und Differenzierung für Strukturen, Aktivitäten und Ziele, kann resultieren aus dem Übergang vom Gründer auf Nachfolgepersonen/-gremien.

c) Landesweite oder internationale/weltweite Organisation

Mit der vorigen Stufe verbunden, daraus resultierend oder sich daran anschließend ist die Herausbildung einer landesweit oder international bzw. weltweit präsenten Organisation, unter Umständen kirchenähnlich strukturiert. Grundsätzlich ist in diesem Stadium alles wie in der vorigen Phase organisiert, aber zumal eine internationale/weltweite Organisation und Vernetzung macht alle Gegebenheiten komplexer und damit weniger transparent, z. B. Leitungsstrukturen, rechtliche Gegebenheiten, finanzielle Regelungen etc.

Die Unterschiede zwischen den jeweiligen Gruppen können entsprechend Herkunft, Selbstverständnis, Alter etc. beträchtlich sein, es sind jedoch Varianten eines Grundmodells. Das Gesagte gilt analog auch für Weltanschauungsgemeinschaften, sogenannte Psychogruppen, Mischtypen aus weltanschaulichen Elementen mit stark wirtschaftlicher Orientierung, politische Extremgruppen.

Mit wenigen Ausnahmen haben neuere religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in Deutschland die Entwicklung zur internationalen/ weltweiten Organisation nicht in Deutschland selbst vollzogen, vielmehr im Ausland, vor allem in den USA, und sind nach Deutschland als mehr oder minder entwickelte internationale/weltweite religiöse Organisationen gekommen. Auch daraus können spezielle Konflikte resultieren (Inkulturationsprobleme).

d) Gruppen mit Unter- und Nebenorganisationen

Eine Reihe vor allem neuerer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen landesweiter und/oder international-weltweiter Präsenz hat zusätzliche Institutionen und Einrichtungen in den Bereichen: Kultur, Bildung, Medizin, Wirtschaft, Politik gebildet. Bisweilen resultieren hieraus Konflikte, die einen religiösen oder weltanschaulichen Kontext im engeren Sinn überschreiten.

Dabei ist zu klären, wie Strukturen, Strategien und Ziele der religiös-kirchlich-weltanschaulichen und ideologischen Hauptorganisation und deren religiös-weltanschauliche Zielsetzungen den Nebenorganisationen, deren Strukturen, Zielen und Aktivitäten zuzuordnen sind. Es gibt vier mögliche Modelle, zwischen denen die Grenzen natürlich fließend sind:

Die Aktivitäten der Nebenorganisationen sind zwar teileigenständig, aber sie sind der religiös-weltanschaulichen Hauptorganisation in überschaubarer Weise zugeordnet. Hier besteht nur ein geringes oder limitiertes zusätzliches Konfliktpotential.

Die Nebenorganisationen verfolgen die Ziele der religiös-ideologischen Hauptorganisation, aber verdeckt, als Bildungs- oder Kulturangebot, in der Form medizinischer, wirtschaftlicher, sozialer, politischer Angebote und Einrichtungen. Dieses Auseinanderfallen deklarierter und (möglicherweise/tatsächlich) angestrebter Ziele ist oder kann in hohem Maße konfliktträchtig sein.

Die Aktivitäten der Nebenorganisationen, zumal diejenigen wirtschaftlicher oder politischer Natur, sind anscheinend oder tatsächlich auf im eigentlichen Sinn wirtschaftliche oder politische Zwecke gerichtet, d.h. die Organisation versucht, die Verbreitung der eigenen religiös-weltanschaulich-ideologischen Ziele mit (u.U. weitreichenden) wirtschaftlichen bzw. politischen Zielen zu verbinden. Dies kann international/weltweit geschehen, landesweit oder auch lokal/regional begrenzt sein. Eine solche Doppel- oder Mehrfachstrategie - diese unterscheidet sich vom Vorhergenannten durch Umfang und Ausmaß - kann ebenfalls in hohem Maße konfliktträchtig sein.

Deklarierte Nebenziele oder Nebenorganisationen und deren Aktivitäten sind tatsächlich Hauptziele oder erscheinen zumindest als solche, die deklarierten Hauptziele religiös-weltanschaulicher Natur sind/erscheinen (als) bloßer Vorwand. Diese Umkehrung der Ziele und entsprechender Aktivitäten ist im Einzelfall unter Umständen nur schwer genau zu fixieren, was u. a. aus den Kontroversen um zahlreiche neureligiöse Gruppen darüber erhellt, ob diese religiös oder vorgeblich religiös sind.

In allen vier Fällen wächst die Konfliktträchtigkeit mit Anzahl, Effizienz und Undurchschaubarkeit der Nebenorganisationen und deren Aktivitäten. Dies gilt besonders, wenn die Neben-, Teil- und Unterorganisationen nur schwer in ihrem genauen Umfang der Hauptorganisation, deren Leitung und Leitungsstrukturen, deren Zielen und Aktivitäten zuzuordnen sind, zumal im Fall eigentlicher Tarnorganisationen.

3.3.4 Mischformen, Wirtschafts- und Strukturvertriebe

In diesem Zusammenhang gibt es auch Mischformen, bei denen die wirtschaftliche oder politische Zielsetzung ein solches Gewicht erhält, daß vorhandene Inhalte und Ziele weltanschaulicher bzw. religiöser Natur überlagert oder sogar verdrängt werden. Das schließt nicht aus, daß ein großer Teil der Entwicklung auch dieser Gruppen zunächst entsprechend den oben skizzierten Entwicklungslinien verläuft. Mit der Dominanz der wirtschaftlichen oder politischen Zielsetzung kommen neue Elemente hinzu, die sich aus der Eigenart der nunmehr, unter Umständen verdeckt verfolgten Ziele ergibt. Es ist in diesen Fällen keineswegs auszuschließen, daß ein Teil der Anhänger sich auch weiterhin für die ideologischen Ziele interessiert und diese zu ihrem persönlichen hauptsächlichen Interesse erklärt.

Die Bandbreite von Organisationen und Anbietern auf diesem sogenannten Psycho- und Lebenshilfemarkt ist sehr groß. Sie reicht von Seminaren und Kursen zur Persönlichkeitsentwicklung und/oder Unternehmens- und Managementberatung, Strukturvertrieben, Direktvertrieben, Multi-Level-Marketing-Systemen bis zu Schnellballsystemen (siehe auch Kap. 5.3). Zu diesen Formen gehören Gruppierungen, die dem Nutzer eine Mischung aus dem "Traum vom großen Geld", Weltanschauung und Esoterik bieten. In den letzten Jahren werden zunehmend unterschiedliche Anbieter in diesem Bereich kritisch hinterfragt. Festzuhalten ist, daß die Übergänge von seriösen qualifizierten Anbietern von in der Wirtschaft auftretende Schulungsunternehmen und Struktur-/Direktvertrieben zu unseriösen problematischen Anbietern fließend sein können bzw. die Methoden auch in speziellen Firmen und Firmenangeboten Anwendung finden.

Der Typus dieser Organisationsform nimmt bewußt zum Teil für sich in Anspruch, nach primär wirtschaftlichen Prinzipien zu funktionieren. Die Strukturmerkmale z. B. pyramidenartiger Aufbau (jeder soll möglichst Mitarbeiter und Kunde werden, der neue Mitarbeiter wird dem Werber zugeordnet usw.), treffen häufig aber nicht auf alle Gruppierungen zu. Im Vordergrund stehen nicht weltanschauliche Fragen, sondern die monetäre Gewinnerzielung für den Einzelnen. Die Erfolgshoffnungen werden allerdings oft durch eine "winner-Ideologie" gestützt. Zu den Teilnehmern solcher Organisationen gehören nicht nur Menschen, die mit ihrem Geld in kurzer Zeit einen großen Gewinn erzielen möchten, sondern auch solche, die durch die Teilnahme in diesen Organisationen den Ausweg vor einem drohenden sozialen Abstieg sehen.

Bei der Anwerbung werden Techniken psychischer Beeinflußung angewandt. Die Welt wird z. B. in "winner" und "looser" eingeteilt, dem einzelnen sei alles möglich, wenn er nur wolle. Bereits in dieser Phase findet eine Immunisierung gegen mögliche Einwände statt. Versagen könne nur der einzelne, nicht das System. Läßt sich der Geworbene auf das "System" ein, wird versucht, die Firmenideologie und Identität kompatibel zu installieren. Firmenphraseologie, die Ausrichtung auf Geld und Erfolg, uniforme Kleidung können die Verbundenheit sichern. Firmenintern öffentlich verteilte Bonifikationen geben einen Vorgeschmack auf den zu erwartenden Erfolg. Führungspersonen genießen fast kultische Verehrung. Das Wir-Gefühl wird über gruppendynamische Spiele gestärkt und Niveauunterschiede der Mitarbeiter im Rahmen von Grenzerfahrungen versucht auszugleichen.

Kostspielige Statussysmbole und Weiterbildung sind Voraussetzungen, um im System aufzusteigen. Zum Teil kann auch über die Zahlung von Geld der nächsthöhere Status erreicht werden, der Prestige und Aufstieg profitabler macht. Die in diesem Systemzusammenhang wirkenden Rahmenbedingungen verändern oftmals das Denken, Fühlen und Handeln der Teilnehmer völlig. Es entsteht eine eigene Welt, die nur noch aus Sicht der Unternehmensideologie betrachtet wird. Das Unternehmen wird zur Ersatzfamilie. Die bisherigen soziale Bezüge werden, sofern diese nicht als Kunden und Mitarbeiter in Frage kommen, aufgegeben.

Die hohen Kosten für immer weiterführende Schulungsveranstaltungen, für Statussysmbole u. ä., die Verluste durch nicht verkaufte Waren führen häufig in den finanziellen Bankrott, da der Aufstieg im System keinesfalls so schnell erfolgt wie er auf den Veranstaltungen suggeriert worden ist.

3.3.5 Konfliktpotentiale

In den letzten 30 Jahren haben sich einige neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in bestimmten Perioden oder dauerhaft als konfliktträchtig erwiesen, andere sind es noch jetzt. Hier ist anzumerken, daß Konflikte interaktiv sind und beidseitig bedingt sein können. Diese Konfliktpotentiale lassen sich schematisch wie folgt gliedern:

a) Konflikte mit der gesellschaftlichen Ordnung. Wenn Gruppen Veränderungen anstreben, die mit dem demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar sind, z. B. die Aufhebung der Gleichheit der Geschlechter und aller Menschen durch die Einführung eines Kastensystems, Aberkennung der Bürgerrechte für die Menschen, die nicht den Prinzipien der Gruppe entsprechen, so ist dies ein Problem. Solche Lehren und eine daraus ggf. entspringende Praxis sind äußerst konfliktträchtig.

b) Konflikte mit bestehenden Gesetzen. Verschiedene Prozesse haben gezeigt, daß einige Gruppen das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht nicht beachten oder gar gezielt zu umgehen versuchen, bzw. versucht haben. Es sind Fälle bekannt gewor-den, in denen einzelne Gruppen mit den Steuergesetzen und dem Strafrecht in Konflikt geraten sind. Es wurde in der Kommission kriminogenes Verhalten angesprochen, wenn Gruppen ihre Mitglieder zu rechts- und sittenwidrigem Handeln anleiten, bzw. ein solches legitimieren. Inwieweit es sich im Einzelfall um organisierte Kriminalität handelt, kann von der Enquete-Kommission nicht festgestellt werden, sondern muß weiterhin Aufgabe staatsanwaltlicher Ermittlungen sein.

c) Einige Gruppen sind konfliktträchtig, da sie in ihrer inneren Struktur totalitäre Machtverhältnisse aufweisen und die verfassungsmäßigen Rechte ihrer Mitglieder einschränken oder beseitigen. Diese Machtstrukturen sind verbunden mit einer starken "Milieukontrolle", z. B. durch Desinformationen nach innen, mit einem extremen Leistungsprinzip mit "jenseitigen Vergütungen", mit einem Personenkult usw.

d) Als Ursache von Konfliktträchtigkeit können auch die in den Gruppen vertretenen Lehren gelten, wenn diese verbunden sind

- mit einer Ideologisierung in Richtung Erfahrungslosigkeit,

- mit einer Simplifizierung der Realität bis hin zum Realitätsverlust,

- mit einer dadurch herbeigeführten Immunisierung gegen Erfahrung und Kritik,

- mit einem absoluten und exklusiven Wahrheitsanspruch, der die Möglichkeit eines eigenen Irrtums nicht einräumt und durch den Wahrheitsgrenzen zwischen der Innengruppe und der Außenwelt aufgerichtet werden,

- mit einer nur für die Innengruppe geltenden Moral, die zugleich die moralischen Normen im Umgang mit anderen aufhebt,

- mit einem "psychotechnischen" Denken usw. Es treten Verständigungsschwierig-keiten mit der sozialen Umwelt auf, die zumindest zu Belastungen, wenn nicht gar Störungen mit der Gesellschaft führen (kognitive und moralische Dissonanzen),

e) Einige Gruppen provozieren dauerhaft oder zeitweise Konflikte mit der weiteren Gesellschaft, um die Binnensolidarität zu fördern.

f) Einige Gruppen vermischen den religiösen Bereich mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit oder benutzen religiöse Ziele als Vorwand für wirtschaftliche und politische Ziele.

g) Die Außenbeziehungen einiger Gruppen sind dann konfliktträchtig, wenn sie gekennzeichnet sind durch ein starkes Sendungsbewußtsein, welches die Rechte anderer nicht anerkennt, da sie grundsätzlich im Unrecht seien, durch einen Gruppenegoismus, der keine Verantwortung für die Umwelt übernimmt, durch Desinformation nach außen, durch sittenwidrige oder verdeckte Anwerbungs-methoden und durch Feindseligkeit gegenüber der Umwelt und gegenüber der rechtsstaatlichen Ordnung.

h) Einige Gruppen sind konfliktträchtig, da sie einen Austritt von Mitgliedern und Anhängern unmöglich zu machen suchen und dadurch die Rechte ihrer Mitglieder, darunter auch die Wahl eines anderen Bekenntnisses, einschränken. Dies geschieht in einem "schleichenden" Prozeß

- durch wirtschaftliche Maßnahmen: Die Mitglieder/Anhänger werden veranlaßt um der Ziele der Gruppe willen, ihr Vermögen und ihre Lebenszeit in die Gruppe einzubringen (Abbruch einer Berufsausbildung etc.), sodaß ein Austritt zu einem lebensgeschichtlichen Problem werden kann,

- durch soziale und sozialpsychologische Maßnahmen: Die Mitglieder/Anhänger werden veranlaßt, alle anderen sozialen Beziehungen abzubrechen, sodaß sie nach einem Austritt möglicherweise sozial völlig isoliert sind,

- durch ideelle Maßnahmen: Die Mitglieder/Anhänger werden dazu gebracht, Vor-stellungen zu übernehmen, die in krassem Gegensatz zur sozialen Umwelt stehen, sodaß bei einem Austritt eine psychische und kognitive Desorientierung eintritt,

- durch Maßnahmen, die umgangssprachlich "Psychotechniken" genannt werden.

i) Konflikte treten auch auf, wenn untaugliche Leistungen, die nach menschlichem Ermessen nicht oder nur für die Führungselite eintreten können (Wohlstands-evangelium, Strukturvertriebe), übermenschliche Fähigkeiten (Fliegen), Heilungen usw. versprochen werden, diese Versprechungen aber nicht, nicht einmal zu einem Minimum verwirklicht werden können. Gravierend sind Konflikte, wenn derartige Leistungen verkauft werden.

j) Ferner treten Konflikte auf durch eine von den Gruppen gezielt herbeigeführte Entfremdung von der Familie und anderen sozialen Beziehungen, durch Abbruch einer Ausbildung oder durch "Ausstieg" aus einem Beruf.

k) Für Kinder können zahlreiche Konflikte dadurch entstehen, daß sie in eine Innengruppe hineinsozialisiert werden, die ihnen ein Leben in der sozialen Wirklichkeit unserer Gesellschaft erschwert oder gar unmöglich macht; auch werden Kinder in einigen Gruppen ihrer natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt.

3.3.6 Exkurs: Anwerbungs- und Rekrutierungsstrategien

Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über im Gesamtbereich anzutreffende Anwerbungs- und Rekrutierungsstrategien. Hier ist - ähnlich wie bezüglich der Gruppenstrukturen etc. - zu beachten, daß keineswegs alle Gruppen über ein entwickeltes, mehrere Stufen umgreifendes Repertoire an Anwerbungs- und Rekrutierungsstrategien verfügen. Dies setzt eine entsprechende Organisationsstruktur, eine entsprechende Anhänger- oder Mitgliederzahl und entsprechende finanzielle Möglichkeiten voraus, die nur teilweise und nur bei einigen Gruppen gegeben sind. Viele Gruppen bedienen sich also nicht aller, sondern dieser oder jener Methode aus den genannten Strategien. Auch werden nicht alle der genannten Strategien benutzt, um Anhänger und Mitglieder für fest institutionalisierte und organisierte Gruppen zu werben, vielfach handelt es sich um Angebote des sogenannten Psychomarkts oder um Angebote der Lebensbewältigungshilfe. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß ein Teil hier vorgestellter Anwerbungs- und Rekrutierungsstrategien ethisch und rechtlich unbedenklich ist. Gleichwohl sollte man wissen, daß auch im Bereich neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen, wie bei anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen, eine gezielte Werbung betrieben wird. Diese wird dann als konfliktträchtig wahrgenommen, wenn manipulative Elemente oder Formen verdeckter Werbung dominieren.

Zu den Anwerbungs- und Rekrutierungsmethoden sind bisher wenig systematische Veröffentlichungen bekannt. Ein von der Enquete-Kommission deshalb geplanter Expertisenauftrag kam wegen der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zustande. Man kann sich über die Werbemethoden anhand der Werbematerialien, dem Auftreten der "Werber" in den Gruppen, in direkter Beobachtung auf entsprechenden Veranstaltungen und z. B. anhand der Berichte der "Aussteiger" informieren. Dabei ist zu beachten, daß aufgrund des Alters und der zum Teil völlig unterschiedlichen Organisationsform der neuen religiösen Gemeinschaften und der Psychogruppen die Anwerbungs- und Rekrutierungsmethoden sehr vielfältig sind.

Stärker als traditionelle Religionsgemeinschaften sind neue religiöse Gemeinschaften und Psychogruppen primär darauf angewiesen, durch Werbung ständig neue Mitglieder, Anhänger, Teilnehmer und Kunden zu gewinnen. Daran hat sich grundsätzlich auch für die bereits im vorigen Jahrhundert gegründeten Gruppen bis heute wenig geändert, auch wenn mittlerweile viele dieser Gruppierungen in die "zweite Generation" gekommen sind und einige der zukünftigen Mitglieder nun auch in diese religiösen Gemeinschaften "hineingeboren" werden. Doch haben die meisten der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen nicht genügend Mitglieder und eine zu hohe Fluktuation in ihrer Anhängerschaft, um auf diese Weise auch nur ihren Bestand gesichert zu wissen. Von den Gruppierungen abgesehen, die ihr Heilsversprechen nur für sich selber verwirklichen wollen und deshalb sich räumlich oder aus der Gesellschaft zurückziehen, sind alle anderen Gruppierungen darauf angewiesen, durch aktive Werbung neue Mitglieder zu gewinnen. Dies trifft besonders auch auf die Gruppen zu, die sich von vornherein nur an Erwachsene wenden. Die neuen Anbieter müssen durch Werbung für ihre Ideen, Heilsversprechen, Kulte an das allgemeine Publikum herantreten.

Bei ihren Werbekampagnen um Mitglieder und Anhänger setzen sie eine wenigstens formell freie "Kundschaft" voraus, deren "religiöse" und therapeutische und anderen Bedürfnisse sie mit ihren Angeboten zu befriedigen suchen. Zugleich müssen sie mit den großen Kirchen und untereinander, aber auch mit anderen Angeboten der Freizeitkultur konkurrieren.

Um Käufer, Anhänger und Mitglieder zu finden, bedienen sich die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen der in der Werbewirtschaft entwickelten Methoden. Allerdings unterscheiden sich die Gruppen im einzelnen dabei deutlich und die Gruppen differenzieren ihre Werbemethoden nach den jeweiligen Zielpersonen. Während manche Gruppen mit eher unprofessionellen Werbemethoden arbeiten, senden andere beispielsweise Hochglanzbroschüren an ausgewiesene Adressaten. Diesen Broschüren ist nicht nur die Einladung zu einem auf die jeweilige Berufsgruppe abgestimmten Kurs oder einer anderen Veranstaltung beigelegt, sondern es finden sich auch beigegebene Bestellzettel, mit denen man meist kostenfrei sich eine weitere Schrift zusenden lassen kann. Werbung der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen kann man fast überall finden, wo viele Menschen zusammenkommen: in Kneipen und Studentencafes, in esoterischen und ökologischen Läden, auf esoterischen Messen, auf Fachtagungen, in inner- und außerbetrieblichen Fortbildungen und auf Stadtteilfesten. Mit Straßenwerbung und Bücherständen auf öffentlichen Plätzen versuchen es viele Anbieter immer mal wieder. Haustürwerbung betreiben nur einige Gruppen. Annoncen für Kurse und Informationsveranstaltungen, auf denen das jeweilige Einstiegsangebot häufig auch kostenlos ausprobiert werden kann, finden sich in den entsprechenden Rubriken aller Stadtinformationszeitschriften.

Ein Teil der Gruppen wie die neuen Gruppierungen aus dem christlichen Raum, die sogenannten klassischen "Sekten" sowie die Sufi-Gruppen u. a. werben mit eindeutig religiösen Themen. Andere Gruppen bieten praktische, meist gewerbliche Lebenshilfe, Managementkurse, Therapien, Steigerung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit, Heilung, Berufs-, Rechts- und Gesundheitsberatung usw. an, also Themen und Kurse, die zunächst nicht als religiöse erkennbar sind bzw. nur vorgeblich religiös sind oder keinen religiösen Hintergrund haben. Manche Gruppen haben Unterorganisationen eingerichtet, die für die Vermarktung dieser Angebote zuständig sind. Gelegentlich ist der Zusammenhang mit der religiösen Gruppe verdeckt, und es bedarf einiges Aufwandes, um solche "Tarnorganisationen" richtig zuordnen zu können. Viele dieser Werbungen sind vermutlich auch Scheinwerbungen, um die eigentliche Anwerbungsmethode, das sogenannte Dialogmarketing, d. h. über persönliche Gespräche mit dem "Kandidaten" in Kontakt zu kommen, unerkennbar zu lassen. Die Werber sprechen die "Kunden" am Rande der Kurse auf ihre Schwächen, Bedürfnisse, Wünsche, Ängste und Sehnsüchte an. Gleichzeitig bieten sie Versprechungen an, wie die Probleme gelöst werden können. Dabei knüpfen die Werber an Emotionen an. Es wird eine Dynamik der Darbietung (Verpackung: Freundlichkeit und Zuwendung) in Gang gesetzt. Hat der "Kunde" das Gefühl vermittelt bekommen, etwas gelernt, sich positiv weiterentwickelt zu haben (und dieses Gefühl wird von den Werbern und in den Gruppen provoziert und dann in den Gruppen sozial bestätigt) und wird ihm glaubwürdig in Aussicht gestellt, sich noch weiter steigern zu können, wird er zum Besuch weiterer Kurse angehalten und kann schließlich dem eigentlichen Lernziel "Bekehrung", zugeführt werden. Wenn der "Kandidat" nichts mehr von sich hören läßt, wird er ggf. telefonisch weiter angesprochen oder sogar persönlich aufgesucht. Bei diesen "Dialogen" gelingt es den Werbern, die persönlichen wie ebenso die gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Probleme des Kandidaten gemäß den Lehren des jeweiligen Leiters oder der Gruppe als religiöses oder psychisches Problem zu interpretieren. Diese scheinen dadurch auch eine Sinngebung zu erhalten, die manchen von seinen "Sinn"-Problemen wenigstens vorübergehend zu entlasten vermögen. Aus der Einsicht, daß Sinnvermittlung beim Einzelnen beginnt und sich nur durch Menschen vermitteln läßt, folgt, daß auch für die betreffenden Gruppen eine Werbung, die auf Einbindung zielt, über einen direkten Personenkontakt den meisten Erfolg verspricht. Dieser Befund wird zumindest partiell bestätigt durch die Erfahrung, daß ein erheblicher Teil der Anhängerschaft bei den meisten Gruppen über private Beziehungen (Bekanntschaft, Beruf usw.) gewonnen wird. Schriften, in denen die Weltanschauung und das Glaubenssystem dargestellt sind, haben für die meisten Menschen eher eine sekundäre Bedeutung, sie können aber Interesse wecken und Sympathie schaffen. Veranstaltungen dienen der Erzeugung von Gruppengefühlen und der Bestätigung des von den Mitgliedern und Anhängern übernommenen religiösen oder psychischen "Weltbildes" durch die Gruppenerlebnisse.

Bei diesen Werbegesprächen, aber auch schon im Vorfeld, werden offensichtlich die Zielpersonen unterschieden, indem ein Teil nur als Käufer von Kursen, Meditationsveranstaltungen, Büchern, Devotionalia, Geräten usw. betrachtet wird und andere als zukünftige Mitglieder oder Mitarbeiter angesehen werden. Weitere Personen werden aufgrund ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Stellung nicht primär als zukünftige Kunden oder Mitglieder angesprochen, sondern als Personen, die die Gruppe gesellschaftsfähig machen und für die soziale Anerkennung sorgen sollen. Diese Funktionalisierung ist bisweilen nicht leicht zu durchschauen, besonders auch, da viele Gruppen sich als "Verfolgte" und Ausgegrenzte fühlen und nach außen darstellen, so daß sie einen hilfsbedürftigen Eindruck erwecken.

Einige Gruppen bieten für Nichtmitglieder aufwendige Weltreisen zu den "heiligen" Orten der wichtigsten Religionen an. Die Mitreisenden sind sorgfältig ausgesucht und können sich während der ganzen Reise der Dialogwerbung praktisch nicht entziehen. Andere Gruppen belohnen mit solchen Reisen, Reisen zu ihren im Ausland liegenden Zentren oder zu besonderen Orten, erfolgreiche Mitglieder.

Einige der "Kurse" und Kultveranstaltungen sind sehr teuer, für diese kommt ein studentisches oder in der Ausbildung sich befindendes Publikum nur in Ausnahmefällen in Frage. Es werden deshalb durch postalisch versandte Werbung gezielt jene Personengruppen angesprochen, von denen erwartet wird, daß sie aufgrund ihrer beruflichen und wirtschaftlichen Stellung und Funktion ein Interesse an solchen Kursen haben und die erforderlichen Kosten aufbringen können. Zum Teil werden die Kurse als berufliche Aus-, Fort- und Qualifizierungsveranstaltungen ausgegeben. Einige Gruppen und Veranstalter werben mit einem System von Kursen, an deren Ende der Kandidat selber zum Lehrer werden kann, und es wird die Erwartung geweckt, daß der Absolvent damit seinen Lebensunterhalt wird bestreiten können. Solche Werbung richtet sich zum Teil gezielt an einen Personenkreis, der nach einer erweiterten Fachschul- oder Hochschulausbildung nicht in die Positionen gekommen ist, die er sich erhofft hatte. Es scheint, daß die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen, wenn man sie insgesamt betrachtet, ein für die verschiedenen sozialen Gruppen und Lebenssituationen bedürfnisorientiertes Angebot unterbreiten. Einzelne Gruppen freilich richten sich jeweils an eine bestimmte Klientel, nur wenige Gruppen an mehrere. Kaum eine Gruppe betreibt Werbung unter allen sozialen Schichten, Berufs- und Bevölkerungsgruppen.

Es gibt aber auch Gruppen, wie z. B. verschiedene (nicht alle) Zen-Gruppen und manche schamanistische Gruppen, die esoterische Grals-Bewegung usw., die praktisch keine Werbung betreiben und von denen selbst die Mundpropaganda nicht ohne Vorbehalte gesehen wird.

Es muß festgestellt werden, daß auch in diesem Bereich das Bedürfnis nach weiterer Forschung besteht, insbesondere auch, um die unseriösen und verführerischen Methoden der Anwerbung von den noch legitimen deutlich unterscheiden zu können und die Teilnehmer von Werbeveranstaltungen über die direkt und vor allem indirekt wirkenden Methoden der Beeinflussung vorher zureichend aufklären zu können.