3.6 Einstiegswege und Mitgliedschaftsverläufe in neuen religiösen
und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen;
Ergebnisse der Forschungsprojekte "Aussteiger, Konvertierte
und Überzeugte - kontrastive biographische Analysen zu Ein-
mündung, Karriere, Verbleib und Ausstieg in bzw. aus religiös-
weltanschaulichen Milieus oder Gruppen"

Im Einsetzungsbeschluß wird der Enquete-Kommission der Auftrag erteilt: "Gründe der Mitgliedschaft in einer sogenannten Sekte oder Psychogruppe" zu eruieren. Die Forschungslage in der Bundesrepublik Deutschland zu diesem Thema erwies sich allerdings als sehr dünn. Über die lebensgeschichtliche Bedeutung des Eintretens in neue religiöse oder ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen, über die Besonderheiten der Verläufe einer Anhängerschaft, die "Karrieren" in diesen Gruppen und Milieus, aber auch über die Entstehung von "Ausstiegswünschen", die z.T. sehr langwierigen Loslösungsprozesse und den weiteren biographischen Verlauf nach dem Verlassen einer Gruppe liegen bislang wenige Ergebnisse vor. Dabei ist auch zu konstatieren, daß die bestehenden Ansätze in der Forschung in die Bearbeitung des Themas bisher nur unzulänglich eingeflossen sind.

Die Enquete-Kommission hat daher vier inhaltlich miteinander verbundene Forschungsprojekte durchführen lassen, die Aussagen über die subjektiv-lebensgeschichtlichen Bedeutungsstrukturen ermöglichen. Die Biographien von 'Aussteigern' und 'Verweilern' wurden in unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Milieus erhoben, Formen und Verläufe von Verweilbiographien herausgearbeitet und damit Erkenntnisse darüber gewonnen, in welcher Weise das eigene Handeln der Individuen, ihre Bedürfnisse nach Sinn und Gestaltung mit Gruppenangeboten und -strukturen zusammenwirken.

Forschungsfrage war somit die breite Palette unterschiedlicher lebensgeschichtlicher und soziokultureller Bedeutungen und Sinnentwürfe, die die Individuen mit ihrem "Eintauchen" in derartige Milieus und Gruppen selbst diesen Zusammenhängen zuschreiben. Erst durch diese Zuschreibungsprozesse avancieren diese Milieus und Gruppen für die Individuen zu bedeutsamen Kontexten. Über eine solche interaktive Perspektive, die die Sinn- und Bedeutungsmuster einbezieht, werden die Individuen nicht nur als passive Opfer bestimmter, klar vorbezeichneter "Täterkreise" erkennbar, sondern als soziale Konstrukteure ihrer Lebensgeschichte und ihrer sozialen Verflechtungen. Dieser "eigene Anteil" stellt eine ganz besondere Herausforderung für die angemessene und gezielte Aufklärung über möglicherweise gefährliche Gruppenstrukturen dar, die bislang nur unzureichend Berücksichtigung gefunden hat, da dazu zuwenig wissenschaftlich fundierte Ergebnisse vorliegen.

Zum Forschungsstand

Es gibt verschiedene Ansätze sich dem Problem des Verlaufs einer Karriere in einem bestimmten religiösen oder sozialen Gruppenkontext zu nähern: z.B. Konversionsforschung, Ursachenforschung oder Verlaufsforschung. Diese Ansätze sind z.T. für unterschiedliche Problemkonstellationen anwendbar.

Für das Verständnis von Konversionsprozesse liegen unterschiedliche Begrifflichkeiten vor. Gemeinsam ist allen die Vorstellung eines radikalen Wandels der Weltsicht bzw. der persönlichen Identität verbunden mit z.T. einschneidenden Folgen für das soziale Umfeld und das Handeln der jeweiligen Person in ihrem weiteren Leben. Als Merkmale eines solchen Wandels werden die Rekonstruktion der Biographie nach Maßgabe der neuen Leitideen, die Übernahme eines neuen, ethischen Musters, welches das Verhalten in Zukunft begründet, die Verdrängung alternativer Begründungen und Sichtweisen sowie die Annahme der Konvertitenrolle in allen sozialen Situationen beschrieben. Eine solche Konzeption wirft die Frage auf, was eine Person dazu veranlaßt, ihre Weltsicht so umfassend zu verändern. Wohlrab-Sahr formuliert in dem Versuch einer biographischen Erklärung von Konversion eine funktionale Perspektive mit der Frage nach der Funktion, die die Konversion in der Biographie des Einzelnen erfüllt. Man könnte auch sagen, mit der Frage nach dem Problem in der Biographie, welches durch den radikalen Wandel der Weltsicht gelöst wird. Dabei muß nachdrücklich betont werden, daß dieses Lebensproblem nicht immer von den einzelnen auch so gesehen wird. Zudem sind für die Lösung durch Konversion nicht nur religiöse Kontexte maßgeblich. Infrage kommen auch nichtreligiöse Formen der Sinnbegründung und Lebenshilfe.

Im Zusammenhang mit der Bewertung von Konversionserzählungen für die Analyse der Konversionsprozesse und Konversionsursachen bleibt festzuhalten, daß jeglicher Lebensbericht retrospektiven Charakter hat und daß die Unterstellung einer vollständigen Kontextabhängigkeit biographischer Schilderungen von Konversion, die Lebensberichte grundsätzlich der wissenschaftlichen Analyse biographischer Verläufe entziehen würde.

Im übrigen legt die gängige Konversionsforschung nahe, daß jeglicher Wechsel der Weltanschauung eine umfassende Veränderung der Selbstauffassung und der biographischen Verläufe bedeutet hat. Die Sicht auf alternative Verläufe wird damit verstellt und ausgeblendet.

In der Ursachenforschung werden zwei Ansätze verfolgt: die Betonung individueller Dispositionen und die Betrachtung von Gruppenstrukturen und Manipulationsmethoden.

Auf der Ebene der individuellen Dispositionen werden isolierte biographische Variablen bzw. Aspekte der Persönlichkeitsstruktur als Gründe betrachtet. Problematische Sozialisationsbedingungen in der Familie können im Zusammenhang mit Brüchen oder Störungen in sozialen Beziehungen während der Kindheit und Pubertät zu einer Identitätsproblematik führen, zu Kommunikations- und Beziehungsproblemen, die durch die Hinwendung zu einem alternativen Sinn- und Therapieangebot oder auch durch eine religiös überformte Wiederherstellung der Herkunftsfamilie und dem damit einhergehenden Aufbau emotionaler Bindungen innerhalb einer Gruppe aufgehoben werden soll. Verschiedene Autorinnen und Autoren betonen die Bedeutung spezifischer Spannungen und Anforderungen in der Phase der Adoleszenz als mögliche Ursache. Andere weisen auf Sinn- und Orientierungslosigkeit, pessimistische Zukunftserwartungen, Krisen infolge gesteigerter sozialer Mobilität mit häufigen Statuspassagen insbesondere in der Phase der Adoleszenz, aber auch die Entfremdung von der Gesellschaft in ihren politischen, sozialen und kulturellen Strukturen oder die Enttäuschung über und Abwendung von den etablierten Kirchen hin. Auch psychosoziale Krisen beruflicher oder privater Art, depressive Tendenzen oder akute Spannungen im alltäglichen Leben, die in der Phase vor dem Eintritt bestehen, werden als Ursachen benannt.

Die genannten Variablen können allerdings alle nur unspezifische Ursachenzusammenhänge abbilden. Sie können die spezifische Wahl bzw. Passung einer von religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen bzw. Lebenshilfeagenten angebotenen Bewältigungsoptionen durch den Einzelnen nicht erklären. So bleibt unklar, warum sich nur einige Wenige, die die aufgezeigten prädisponierenden Faktoren bzw. Persönlichkeitsmerkmale aufweisen oder sich in den beschriebenen krisenbehafteten Lebensphasen befinden, den spezifischen Gruppierungen anschließen, andere mit den gleichen Merkmalen in ihrer herkömmlichen Lebensform verbleiben oder andere Bewältigungsformen wählen.

Auch gruppenspezifische Merkmale oder Manipulationsmethoden werden als Ursachen für den Gruppenbeitritt diskutiert. Sie verstehen die werdenden Mitglieder ”destruktiver Kulte” als ”Opfer” verschiedener Manipulationsmethoden z.T. verbunden mit betrügerischen Verschleierungsversuchen seitens einer Gruppe. Allen Theorien gemeinsam ist, daß sie das Schwergewicht der Erklärung auf die Beeinflußungstechniken und die totalitäre Struktur der Gruppe legen. Die oftmals unter dem Stichwort ”Gehirnwäschetheorie” zusammengefaßten Ergebnisse dieser Arbeiten werden in der wissenschaftlichen Diskussion sowohl methodisch als auch inhaltlich kritisiert und z.T. widerlegt. Die Übertragung des ursprünglich aus der Untersuchung von Kriegsgefangenen entwickelten Modells auf ”sogenannte Sekten- und Psychogruppen” erscheint grundsätzlich fragwürdig. Die beschriebenen Folgen lassen sich empirisch kaum nachweisen bzw. in eindeutig kausalen Zusammenhang mit der Mitgliedschaft deuten. Die Untersuchungen, die in diese Richtung deuten, weisen grundlegende methodische Mängel auf. Die Gefahren wirken angesichts der absoluten Zahlen der Mitglieder sowie der Stagnation der Mitgliederzuwächse und der hohen Austrittsraten letztlich wenig überzeugend.

Die Verlaufsforschung widmet sich der Erfassung und Beschreibung der Verläufe von Zuwendung, Mitgliedschaft und Verlassen einer Gruppe. In bezug auf den Prozeß der Einmündung gilt es zu klären, wie potentielle Mitglieder oder Teilnehmer mit einer Gruppe in Kontakt kommen und welche Art des Kontakts unter dem Gesichtspunkt der Anwerbung neuer Mitglieder für die Gruppe erfolgreich ist. Auch ist zu klären, welche Art des Kontakts für das neue Mitglied die günstigsten Folgen in bezug auf eigene Erwartungen und den weiteren biographischen Verlauf zeigt. Hierbei kommt den Rekrutierungsbemühungen der Gruppen eine ebenso große Bedeutung zu wie den Suchbewegungen bzw. Interessen der potentiellen Mitglieder oder Teilnehmer. Die Strategien und Aktionen der Gruppen scheinen vielen Autoren allerdings leichter zugänglich, so daß diese bislang in der ”strukturellen Verfügbarkeit”, also den räumlichen, zeitlichen, sozialen und ideologischen Bedingungen, die einen Kontakt möglich machen, und den sozialen Netzwerken den Schlüssel zum Verständnis von Einmündungsprozessen sehen. Für die Stabilisierung der Mitgliedschaft sind insbesondere die sozialen Beziehungen von Bedeutung. Für den Prozeß des Ausstiegs und seine Gründe findet man in der Literatur einige wenige Erklärungsansätze bzw. Modelle. Den Beginn des Entfremdungsprozesses markieren hiernach allgemeine oder situative Legitimationskrisen, die die Plausibilität der Lehre, des Führers oder der Gruppenstruktur in Frage stellen. Derartige Krisen sowie enttäuschte Erwartungen in Bezug auf die persönliche oder gesellschaftliche Entwicklung führen zu einem Stadium der Verunsicherung, in dem die Zweifelnden neu auftretende den Erwartungen widersprechende Erlebnisse nicht mehr ignorieren. Werden die Zweifel durch weitere Krisenerlebnisse verstärkt, beginnt die Infragestellung der Mitgliedschaft und die Suche nach Alternativen. Der tatsächliche Vollzug des Austritts wird aber in der Regel noch durch ein Schlüsselereignis ausgelöst. Daran schließt sich eine Phase des ”Floating” zwischen den zwei Symbolwelten an und schließlich die der sozialen und kognitiven Reorganisation. Die beschriebenen Prozeßmodelle geben isoliert Aufschluß über die Einstiegs-, Adaptions-, und Mitgliedsphase sowie über den Prozeß der Abkehr. Sie verbinden diese Erkenntnisse aber nicht mit den motivational oder dispositionell biographischen Dimensionen dieser Prozesse und sagen auch wenig über die biographischen Folgen und Bearbeitungsweisen.

Zuletzt gibt es auch Ansätze, die die Tendenz zu neuen Formen der Sinnstiftung und Lebenshilfe in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen sehen. Diese liefern Hinweise auf die Entstehungsbedingungen und Funktionen "sogenannter Sekten und Psychogruppen” in modernen westlichen Gesellschaften. Sie wollen und können aber aus methodischen Gründen die Frage nicht beantworten, warum sich Individuen in spezifischen Lebenssituationen und/oder aus spezifischen Lebensverläufen heraus spezifischen Gruppierungen anschließen und warum andere in vergleichbaren Situationen ganz andere Lebenswege einschlagen.

Zur Methode

Ein solch anspruchsvolles Forschungsziel erfordert die Anwendung einer geeigneten Methode. Alle vier Forschungsprojekte stellen Interviewstudien dar, arbeiten mit narrativen Interviews und folgen prinzipiell der Methodologie für qualitativ-biographische Sozialforschung. Diese kann wie folgt charakterisiert werden: Qualitativ-biographische Sozialforschung folgt einer anderen Forschungslogik und anderen methodologischen Grundsätzen als die quantitative Sozialforschung und die Demoskopie. Sie betrachtet das Gesellschaftliche nicht als nach methodischen Regeln von außen beobachtbare und vermeßbare Welt, sondern als eine "kommunikativ verfaßte Sphäre", die u. a. durch permanente Deutungen der Gesellschaftsmitglieder konstituiert und verändert wird. Darum kann qualitativ-biographische Sozialforschung nicht im vorhinein festlegen, welche Merkmale sie am Gegenstand interessieren; sie definiert die Merkmale ihres Gegenstandsfeldes nicht vor der Erhebung der Daten (durch Operationalisierung usw.), sondern will den Forschungsprozeß möglichst lange offen halten dafür, was der Gegenstand selbst "sagt". Sie versucht, sich dem kommunikativen Charakter des sozialen Lebens "anzuschmiegen", indem sie Erhebungsinstrumente verwendet, die den Gewohnheiten des sozialen Lebens möglichst nahe sind. Die Erhebung mittels des narrativen Interviews erfüllt diese Bedingung. Sie will erreichen, daß die Erfahrungs- und Deutungsweisen der Befragten möglichst ohne theoretische Vorwegsteuerung durch den Interviewer und ohne kategorisierende Vorwegsteuerung durch einen Fragebogen oder einen Interview-Leitfaden zur Sprache kommen können.

Qualitativ-biographische Sozialforschung faßt das Gegenstandsfeld nicht wie einen "Haufen" von Fällen auf, der mit Hilfe der Statistik nach Merkmalskonstellationen durchforstet werden kann, sondern achtet einen jeden Einzelfall als Ausdruck und Träger des Gesellschaftlichen, behandelt einen jeden Einzelfall als Repräsentanten des Gesellschaftlichen und als Informanten darüber. Sie ist deshalb nicht an Aussagen über Anteilswerte (Prozentuierungen o. ä.) interessiert; sie schließt deshalb nicht von einer Stichprobe auf die Grundgesamtheit (Repräsentationsschluß), sondern faßt die in Fällen identifizierten Merkmale und Strukturen als Auskünfte über Gesellschaft auf.

Diese Auskunftsleistung der Einzelfälle wird jedoch darin relevant, daß in jedem Einzelfall eine Fallstruktur identifiziert werden kann, besonders aber darin, daß in mehreren Einzelfällen eine Dimension identifiziert werden kann, in der sich die Fälle zu einer Typologie ordnen lassen, anhand derer aus den Fällen kontrastierende Typen abstrahiert werden können. Diese Zuordnung oder Typologie ist dann das Ergebnis: Sie bildet die Varianten, das Mosaik, das Repertoire der möglichen Ausprägungen des theoretisch interessierenden Prozesses bzw. der theoretisch interessierenden Konstellation ab. Diese Typologie ist die anhand der Fälle entwickelte Theorie des angezielten Prozesses bzw. der Konstellation, nach der die Forschung gesucht hat. Eine solche Theorie ist zwar in ihrer Reichweite deutlich begrenzter (weil nur für den erforschten Gegenstandsbereich oder sozialen Prozeß gültig) als die gängigen sozialwissenschaftlichen Makrotheorien oder die Theoreme mittlerer Reichweite, dafür aber empirisch gesättigt - eine grounded theory.

Die Ergebnisse kurzgefaßt

Ergebnis der vier vorgelegten Untersuchungen ist nicht die Identifizierung der typischen "Sektenkarriere" oder "Sektendisposition", sondern vielmehr die Vielfalt oder Varianz von biographischen Fallstrukturen, die sich dann typologisch zuordnen lassen. Es können nicht einzelne Variablen der Sozialisation oder bestimmte typische biographische Konstellationen allein verantwortlich gemacht oder als determinierend identifiziert werden für die Neigung und Zuwendung zu bestimmten Milieus und Gruppen. Bei der Zuwendung zu bestimmten Milieus und Gruppen ist vielmehr eine Menge Zufall im Spiel.

Eine biographische Relevanz der Zuwendung zu den spezifischen Milieus und Gruppen allerdings konnte aufgewiesen werden. Bei allen Fallanalysen konnten in der Lebensgeschichte entstandene Problemlagen, sogenannte "Lebensthemen" identifiziert werden: ein Bündel von lebenspraktischen Fragen und Herausforderungen, das die Individuen in verschiedenen und teils aufeinanderfolgenden Kontexten zu bearbeiten versuchen. In bezug auf die untersuchten Gruppen und Milieus konnte bei den Probanden ein Zusammenhang identifiziert werden zwischen Lebensthema und dem spezifischen Kontext der Gruppe, über den diese(s) bearbeitet werden kann. Das Lebensthema erzeugt einen Druck zur Veränderung und wird von den Individuen in der Regel so lange bearbeitet, bis sich eine für das Individuum befriedigende Lösung bzw. "Passung" einstellt.

Nach diesen Ergebnissen verlaufen die markantesten Kontrastlinien also nicht zwischen Aussteigern und Bleibern. Besonders für diejenigen Gruppen, die kaum oder gar nicht zu Geschlossenheit nach außen und zu erkennbarer Organisiertheit ihrer Mitglieder neigen, wie etwa besonders die esoterischen Milieus und Psychogruppen, sagt diese Kontrastierung wenig aus. Aus dem Gesamtbild ergibt sich daher weder der typische Einstiegsprozeß, noch der typische Ausstiegsprozeß. Für die Analyse der biographischen Interviews ist die Kategorisierung zwischen Bleibern und Aussteigern zu einfach; differenziertere Konzepte mußten in den Blick genommen werden.

Eine bei weitem aussagekräftigere Kontrastierung als die zwischen Aussteigern und Bleibern ist die zwischen unterschiedlichen biographischen Folgen, zwischen unterschiedlichen Wegen und unterschiedlichen Ergebnissen der Bearbeitung. Es ist eine Frage der "passenden" Bearbeitungsweisen und Bearbeitungsmöglichkeiten, ob ein Proband in einem Milieu oder einer Gruppe länger verweilt, diese wechselt oder wieder verläßt. In welcher Weise individuelle Problemlagen und Lebensthemen bearbeitet werden, liegt also weniger an der Verfaßtheit der Milieus und Gruppen als vielmehr am Passungsverhältnis zwischen Individuen und den Gruppen. Auch über die Frage, ob und wie die Zuwendung und die "Karriere" problemverstärkend oder heilsam und problemlösend verläuft, entscheidet also das Ausmaß der Passung zwischen dem Gruppenprofil und den Problemdispositionen der Individuen. Offensichtlich hängt es nicht zuletzt von den individuellen Ressourcen und den Handlungsspielräumen ab, die Subjekte in die religiöse bzw. esoterische Karriere mitbringen, was mit ihnen in diesen Milieus geschieht, und nicht allein vom Milieu oder Gruppe. Über die jeweiligen Gruppen hingegen können die Untersuchungen keinesfalls "objektiv", sondern nur aus der Perspektive der Probanden Auskunft geben. Aufgrund der Ergebnisse aus den biographischen Interviews ist es insgesamt nicht einleuchtend, von "Sekten" zu reden. Man kann auch nicht prinzipiell von einer "radikalen" oder "gefährlichen" Gruppe sprechen.

Die in den Fallanalysen erhobenen biographischen Zusammenhänge und Lebensthemen lassen angesichts der Unwägbarkeiten von Passungsverhältnissen, Bearbeitungsmöglichkeiten und biographischen Folgen bei einem Teil der Fälle einen Bedarf an Nachsozialisation und Beratung erkennen. Zudem wurde deutlich, daß eine Beratung nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt einer Ausstiegsberatung erfolgen sollte. Wenn es den typischen Ausstiegsprozeß im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme nicht gibt, dann kann es auch keine typische Beratung für den Ausstieg geben. Biographische Muster, Persönlichkeitsentwicklung und -struktur sowie die individuellen Problemkonstellationen stehen im Mittelpunkt.

Die in diesem Kapitel behandelte Problematik ist für die Gesamtdiskussion von besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund hat die Enquete-Kommission die o.g. Forschungsberichte in Auftrag gegeben. Um dies entsprechend zu dokumentieren, sind die Ergebnisse im Anhang dieses Berichtes aufgenommen worden.