4.3 Bildung und Weiterbildung

4.3.1 Individuelle Aufklärung und Bildung sowie Verbandsaufklärung

Die staatliche Aufklärung und Bildung von Individuen und Verbänden über die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen sollte mehrere Ziele verfolgen: Erstens die Abwehr von Gefahren, zweitens die Sicherung der individuellen religiösen und weltanschaulichen Freiheit durch Bildungsmaßnahmen, die informierte Entscheidungen ermöglichen, drittens die Sicherung der Meinungsfreiheit im religiös/weltanschaulichen Diskurs durch das Schaffen von günstigen Rahmenbedingungen und viertens die Förderung des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sowie ggf. ihre Integration in die Gesellschaft. Die ersten beiden Punkte (Gefahrenabwehr und religiös/weltanschauliche Bildung) haben eine besondere Bedeutung im Bereich der Ausbildung (Schule, Universität usw.) sowie beim Jugendschutz.

Staatliche Aufklärung

Die staatliche Aufklärung über einzelne Gruppen durch Broschüren, Presseverlautbarungen, Tagungen etc. bleibt notwendig. Sie muß sich jedoch auf die besonders problemträchtigen und/oder besonders weit verbreiteten Gruppen konzentrieren, deren Gefahrenpotential gut belegt und klar benennbar ist. Beispiele sind die Gefahr des sexuellen Kindesmißbrauchs bei den "Children of God" (jetzt: Familie) oder die von der Scientology-Organisation verursachten Gefahren für Gesundheit und Vermögen. Ansonsten sollte sich die staatliche Aufklärung an den konkreten Konflikten orientieren, zum Beispiel an dem Konflikt zwischen den bürgerlichen Rechten und dem Selbstbestimmungsstreben von Individuen und dem Anspruch einer religiösen Gruppe auf die rigide Einhaltung von Lebensregeln. Ein wichtiges Aufklärungsthema im Bereich des Jugendschutzes wären in diesem Fall die sozialen Merkmale abhängigmachender Gruppen, die Merkmale des Personenkults usw. Weitere Konfliktfelder und die entsprechenden Zielgruppen für die Aufklärung sind im Kommissionsbericht im einzelnen aufgeführt.

Ein besonderes Konfliktpotential besitzen derzeit die zahlreichen problematischen Angebote zur Lebenshilfe auf dem sogenannten Psychomarkt, die teilweise von organisierten Gemeinschaften gemacht werden. Hier wäre ein Schwerpunkt der staatlichen Aufklärung zu setzen. Außerdem sollte die staatliche Aufklärung über Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten erheblich verstärkt werden. An anderer Stelle des Berichts wird der Vorschlag gemacht, zu diesem Zweck die staatliche Förderung der einschlägigen Forschung, Beratung und Aufklärung durch die Einrichtung einer Stiftung zu bündeln und zu koordinieren. Die hier vorgelegten Empfehlungen sollten in einem größeren Zusammenhang mit diesem Vorschlag gesehen werden.

Dem öffentlichen Informationsbedarf steht eine Desinformationspolitik einiger konfliktträchtiger Gruppen gegenüber, bei einigen (VPM, Universelles Leben, und in besonderer Weise Scientology) auch eine Einschüchterungspolitik - und sei es nur durch Klagehäufung - gegenüber Kritikerinnen und Kritikern. Daher ist die Beteiligung staatlicher Stellen am Informationsfluß auch als Beitrag zur Sicherung einer unbehinderten öffentlichen Meinungsbildung zu sehen. Außerdem kann öffentliche Aufklärung von staatlichen Stellen wegen der besonderen, verwaltungsrechtlich überprüfbaren Verpflichtung des Staates zur Neutralität in der öffentlichen Diskussion deeskalierend wirken und die Stellungnahmen anderer Konfliktparteien relativieren bzw. sinnvoll ergänzen. Das auch aus anderen Gründen nötige Netzwerk von sachkundigen Beratungsstellen sollte durch zweckdienliche Maßnahmen instand gesetzt werden, Kenntnisse zu bündeln und auszutauschen (Vernetzung), so daß die vorhandenen Informationen staatlichen Stellen, Ratsuchenden, Organen der Rechtspflege usw. zur Verfügung stehen. Das Netzwerk von sachkundigen Beratungsstellen sollte außerdem an der gezielten Verbreitung staatlicher Aufklärung maßgeblich beteiligt werden.

Schulische Bildung

Die schulische Bildung wird der Situation des Bürgers in einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft einschließlich der damit verbundenen Probleme derzeit nicht gerecht. Diese schulische Bildung muß vor dem Hintergrund kultureller und religiöser Pluralisierung verstärkt interkulturelle Lernprozesse fördern. Diese sollen auf die Ermöglichung interkultureller Toleranz und einer reflektierten, kritischen Auseinandersetzung mit pluralen Lebensformen und Weltanschauungen zielen. In diesem Rahmen muß auch die Auseinandersetzung mit den Weltreligionen und mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Strömungen erfolgen. Es wird bisher zu wenig berücksichtigt, daß die Individualisierung unserer Gesellschaft, die mit einem Verlust gemeindlicher und lebensweltlicher Einbindung einhergeht, den Wechsel von Religion und Weltanschauung während des Lebens immer wahrscheinlicher macht und auch "Schnell-Konversionen” leichter als früher erwarten läßt.

Religion gehört in den Bereich grundgesetzlich besonders geschützter Überzeugungen und daraus resultierender Lebenspraxis. Daher ist Unterricht Sache der Religionsgemeinschaften. Es liegt in der Verantwortung der Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften, die an öffentlichen Schulen Religionsunterricht erteilen, die Curricula für das Schulfach zu überprüfen und - soweit dies nicht bereits erfolgt - Unterrichtseinheiten zum Thema neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen einzuführen oder zu erweitern.

Da aufgrund der verbreiteten Abmeldung vom konfessionellen Religionsunterricht die Schule die benannten Defizite nicht auffangen kann, sollte - soweit noch nicht vorhanden - eine Unterrichtseinheit zur Religionskunde allgemein eingeführt werden. Diese sollte Informationen zu den wichtigsten Weltreligionen, den neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen, aber auch zur grundlegenden Frage nach Religion enthalten. Es fehlt in den schulischen Curricula vielfach an Hintergrundinformationen über die Weltreligionen sowie über neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen. In diesem Zusammenhang müßte auch die Konflikthaftigkeit durch radikale oder problematische Strukturen bearbeitet werden. Bei diesem Unterricht darf auf keinen Fall übersehen werden, daß die darin erfolgende kognitive Wissensvermittlung über tradierte und neue religiöse Formen nicht an die Stelle eines konfessionellen Religionsunterrichtes treten kann, der auch die Erzeugung eines religiösen Bewußtseins und einer religiösen Bindung zum Ziel hat, sondern nur die Voraussetzungen für eine tolerante und kritische Auseinandersetzung mit Weltanschauungen und Glaubenshaltungen schaffen kann.

Eine derartige Unterrichtseinheit müßte darüber hinaus in eine sowohl fachspezifische wie fächerübergreifende Schulkultur der moralischen Auseinandersetzung mit den ethisch-kulturellen und weltanschaulich-religiösen Orientierungsmustern und Fremden eingebettet sein. Darin sollten auch die alltäglichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden.

Die Lehrer des Unterrichts in Ethik bzw. "Werte und Normen” usw. (Ersatzfach) erhalten in der Regel keine wissenschaftliche Ausbildung an einer Hochschule für dieses Fach. Daher ist die Einführung eines entsprechenden regulären Studienganges unumgänglich. Dabei sollte das Thema "neue religiöse Bewegungen in der Neuzeit” angemessen berücksichtigt werden. Bisher wird das Fach unterrichtet von Lehrern, die sich entweder dafür interessieren oder die sich einem entsprechenden Auftrag nicht verweigern können. Es ist nicht vertretbar, daß die Lehrer dieses Faches (als einzige an deutschen Schulen) fast ausschließlich auf sporadische Weiterbildungsmaßnahmen angewiesen sind. Erste Maßnahmen zur Verbesserung dieser Situation sind von einigen Bundesländern (z. B. Thüringen) ergriffen worden. Da das Fach aber unter verschiedenen Namen mit verschiedenen Konzeptionen inzwischen in fast allen Bundesländern eingerichtet wurde, bedarf es daher einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung hierfür.

In der akademischen Ausbildung ist das Thema "Weltreligionen" zwar im Rahmen der Theologie und der Religionswissenschaft präsent, das der neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen und Psychogruppen jedoch noch erheblich stärker unterrepräsentiert als in der schulischen Bildung. Auch anhand des internationalen Vergleichs ergibt sich, daß dieser Bereich in Forschung und Lehre an den deutschen Hochschulen trotz seiner sozialen und intellektuellen Bedeutung wenig wahrgenommen wird. Daher besteht auch hier Handlungsbedarf: Eine Ansiedlung entsprechender Studienangebote wäre u.a. bei den Sozialwissenschaften, der Religionswissenschaft und der Theologie, aber auch in psychologischen oder juristischen Studiengängen möglich.

Die Enquete-Kommission hält es für wünschenswert, wenn die Landesregierungen und speziell die Kultusministerkonferenz die Voraussetzungen für einen, durch eine wissenschaftliche Ausbildung der Lehrer qualifizierten (ausgewiesenen) Unterricht schaffen würden.

4.3.2 Selbstaufklärung des Staates

Notwendige und zureichende Maßnahmen von Justiz, Verwaltung usw. werden häufig weniger durch etwa fehlende gesetzliche Möglichkeiten verhindert als durch mangelhafte Kenntnisse über den Bereich der neuen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften sowie der Psychokulte. Daher sollten interne Fortbildungsmaßnahmen künftig eine höhere Priorität haben. Besonders bedeutsam sind

Rechtspflege,

Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaften, Kriminalpolizei),

Jugendämter und andere mit dem Jugendschutz befaßte Stellen,

Gesundheitsbehörden.

Für die gesamte deutsche Richterschaft gibt es bislang ein mehrtägiges Fortbildungsangebot der Richterakademie mit ca. 30 Plätzen pro Jahr. Ähnlich geringfügig ist bisher das Angebot im Raum der Verwaltung, der Polizei usw. Diesem Mangel wird zwar durch zum Teil qualitativ gute schriftliche Informationen abgeholfen, die aber nicht zentral und koordiniert angeboten oder eingesetzt werden und auch (bisher) nicht zentral abgerufen werden können. Einzelne, engagierte Experten vor allem in den Länderverwaltungen werden regelmäßig durch die Vielzahl der Anfragen und Informationsersuchen überfordert. Sie müßten daher wirkungsvoll von einer zentralen Stelle aus mit Material und Fortbildungsangeboten unterstützt werden. Auch dafür fehlt es teilweise allerdings an einem Forschungshintergrund, der mit den Mitteln der Forschungsförderung erst nach und nach geschaffen werden muß.

Weiterhin hat sich im Rahmen der Kommissionsarbeit ergeben, daß bei den Beratungsstellen sehr unterschiedliche Kompetenzen vorliegen und unterschiedliche, mangels eines wissenschaftlichen Hintergrunds auch meist pragmatisch selbst entwickelte Beratungskonzepte benutzt werden. Es fehlt an der Umsetzung von (teilweise ebenfalls noch zu erarbeitenden) Forschungsergebnissen und systematisierter Erfahrung für die Beratungspraxis. Weiterbildung für ehren- und hauptamtliche Berater sollte deshalb staatlicherseits angeboten bzw. gefördert werden, ebenso die Entwicklung und Erprobung von Beratungskonzepten auf wissenschaftlicher Grundlage. Aus solchen Angeboten können sich längerfristig auch Maßstäbe für die Kompetenz von Beraterinnen und Beratern und damit Qualitätskriterien für die Förderung von Aufklärungs- und Beratungseinrichtungen durch die öffentliche Hand ergeben.