5 Analyse einzelner Schwerpunktthemen

5.1 Formen sozialer Kontrolle und psychischer Destabilisierung

5.1.1 Fragestellung

Im nachfolgenden Kapitel bezieht die Enquete-Kommission Stellung zur Frage der seelischen Manipulation. Im einzelnen geht es dabei um Antworten auf folgende Fragen:

- Welche Ursachen tragen dazu bei, daß es zur Kontaktaufnahme mit Anwerbung zur Akkulturation (Konversion, Beheimatung) und langfristigem Verbleib in einer konfliktträchtigen Gemeinschaft kommt?

- Welche dieser Ursachen lassen sich als Manipulation des Einzelnen durch die Gruppen beschreiben?

- Welche Formen der Manipulation führen zu psychischer Abhängigkeit?

- Welche Manipulationsformen sind als unsittlich oder eventuell sogar unrechtmäßig zu kennzeichnen?

5.1.2 Problemlage

Die Beschreibungen und Zuschreibungen von Ursachen für die oben genannten Abläufe gehen in der Wissenschaft und im Alltag weit auseinander. Vor allem die zahlreichen vorliegenden Erfahrungsberichte und wissenschaftlichen Sachstände differieren in ihren Aussagen zum Teil erheblich. Das Spektrum reicht von der Auffassung, daß alle als anstößig wahrgenommenen Interaktionen zwischen Individuum und Gruppe von zielgerichteten, bewußt eingesetzten Manipulationsmethoden der Gemeinschaft bestimmt würden, bis hin zu der Auffassung, daß die Ursachen für diese Interaktionen und ihre Ergebnisse weitgehend im Befinden des Individuums lägen und die Einwirkung der Gruppe keine Rolle spiele. Von daher werden die Interaktionsweisen jedenfalls ethisch sehr unterschiedlich beurteilt. In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung stehen sich grob betrachtet meist Interaktions- und Verführungstheorien als Kontrahenten gegenüber. Gestützt durch die affektive Besetzt- und Wertgeladenheit des Themas und gesteuert durch bestimmte Vorlieben bei der Auswahl der Daten, halten sich dort Frontstellungen, die sich auf dem wissenschaftlichen Feld nur schwer behaupten. In der Wissenschaft werden Verführungstheorien nur von einer Minderheit vertreten. Diese gehen zum Teil davon aus, daß durch manipulative Beeinflussungsmethoden auch physiologisch diagnostizierbare, nicht-normale abhängige Zustände des menschlichen Gehirns erzeugt werden könnten. Plausibler, und von der Mehrheit der mit dem Problem befaßten Humanwissenschaftler vertreten, ist die Annahme, daß nicht Methoden und Techniken, sondern das Grundlagenwissen und die damit implizierten und transportierten Werte, Ideen, Menschen- und Weltbilder ausschlaggebend sind, auch für die Auswirkungen von einzelnen "Techniken". Manipulative Absichten hängen darüber hinaus nicht nur vom Ideen- und Wertesystem ab, sondern von der "Dosis" der Verabreichung und den damit verbundenen sozialpsychologischen Prozessen ihrer Vermittlung, unabhängig davon, welche Inhalte verabreicht werden.

Enkulturationsprozesse in neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen sind vergleichbar mit der Sozialisation in andere Gruppierungen der Gesellschaft oder mit Erziehungsprozessen. Die Unterschiede liegen vor allem in der Massivität, der Monopolhaftigkeit und der Zielgerichtetheit der Einflußnahme auf Individuen.

Die rechtliche Beurteilung solcher Interaktionen kann sich nur auf soziale Handlungen richten, die Fremd- und Selbst-Sozialisationsprozesse mit dem Ziel der Erzeugung innerer Befindlichkeiten initiieren oder auf Dauer stellen: Pädagogik, Therapie, Training und andere Maßnahmen. Da religiöses Gruppen-Verhalten mit denselben Mechanismen erlernt und aufrecht erhalten wird, ist eine besondere Sektensozialisationstheorie nicht nötig. Der Glaube an die Wirksamkeit bestimmter Sozialtechniken, Verfahren oder Methoden spielt im spirituellen Bereich vermutlich eine größere Rolle, aber auch im sich als weltlich verstehenden Bereich ist dieses Phänomen nicht unbekannt.

Eine eigene Überzeugungskraft und Plausibilität können sogenannte ekstatische Erfahrungen gewinnen, die im Zusammenhang von Meditation gemacht werden, Erfahrungen der Ruhe, der Stille, der Ganzheit, oder ekstatische Entgrenzungserfahrungen, All-Einheits-Erfahrungen ("kosmisches Bewußtsein"), Lichterfahrungen o.ä. Solche Erfahrungen können spontan auftreten oder durch bestimmte Techniken methodisch herbeigeführt und induziert werden. Erfahrungen dieser Art können erfüllend und befreiend sein ("Gipfelerfahrungen" - "peak experiences"), aber auch regressiv oder zerstörerisch, je nach Methode, individueller Disposition und Gekonntheit des Umgangs. Obwohl also Erfahrungen dieser Art im Zug der Hinwendung zu einer Gruppe oder Doktrin eine eigene Motivation und eine eigene Art von Überzeugungskraft und Plausibilität entwickeln mögen und obwohl ferner im Fall mißbräuchlicher oder ungekonnter Praxis Formen von Abhängigkeit möglich sind, ist es fraglich, ob mit Hilfe solcher Methoden und Techniken eine Sozialisation in bestimmte Gruppen manipulativ erreicht werden kann (in Analogie zu den "Gehirn-/Seelenwäsche"-Annahmen).

Eine Bewertung von Sozialtechniken im Sinne ihrer Gefährlichkeit kann nur mit der Kenntlichmachung der damit verbundenen Menschenbilder, Wertordnungen und Theorien erfolgen.

Im Erkenntnisprozeß der Enquete-Kommission hat sich herauskristallisiert, daß die Beeinflussung von Menschen nicht so sehr Folge des Einsatzes spezifischer Techniken ist, sondern Einwirkungen auf verschiedenen Ebenen zusammenkommen müssen, vor allem sozialpsychologisch geschaffene Abhängigkeiten und soziale Kontrollmechanismen.

5.1.3 Ebenen der psychischen Abhängigkeit

Der Begriff der "psychischen" oder "seelischen Abhängigkeit" ist kein psychologischer Fachterminus, obwohl er sich häufig in der Literatur über neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen findet. Er wird auch in wissenschaftlicher Literatur verwendet, obwohl der psychische Prozeß des Zustandekommens und der Aufrechterhaltung psychischer Abhängigkeit als ungeklärt anzusehen ist. Er beschreibt Erfahrungen von Menschen, die von außen gesehen einem starken Einfluß einer Gruppe oder einer Autorität unterliegen, der zu ihrem Schaden zu wirken scheint, oder die es auffallend an Distanz und Kritikfähigkeit fehlen lassen, obwohl beides nach dem Urteil Außenstehender angebracht wäre. Der Begriff beschreibt solche Erfahrungen einmal durch eine Analogie mit dem Phänomen der Sucht. Auch bietet sich damit der Vergleich zu politischen und familiären Abhängigkeiten an, die auf Machtausübung oder der Möglichkeit dazu beruhen.

Dieser Sprachgebrauch wird hier auf seine Brauchbarkeit hin überprüft und in den Vorschlag einer Arbeitsdefinition münden.

Psychische Abhängigkeit und Sucht

Oft wird psychische Abhängigkeit mit dem Phänomen der Sucht verglichen. Sucht besteht in einem innerseelischen, nicht willentlich kontrollierbaren, starken und regelmäßigen Bedürfnis nach einer bestimmten Verhaltensweise, bzw. einem bestimmten Erlebnis, das stereotyp gesucht bzw. ausgeführt wird. Wird die Ausführung verhindert, ruft dies Stress, Ängste, Desorientierung und ggf. Hyperaktivität oder depressive Zustände (also Entzugserscheinungen) hervor. Die Bereitschaft zu suchtförmigem Lösungsverhalten entsteht weniger als Reaktion auf Umweltbedingungen, sondern durch innerlich verursachte und ausgelöste Verengungen in den Möglichkeiten der Selbstregulierung und Selbststeuerung.

Ähnlichkeiten zur psychischen Abhängigkeit im hier vorgestellten Sinn bestehen in der scheinbaren Zwanghaftigkeit des Verhaltens. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch diese Zwanghaftigkeit (z.B. das stereotype Wiedergeben von Parolen der Gruppe) als situationsspezifisch, nämlich als Art mit Menschen umzugehen, die als kritisch und feindlich wahrgenommen werden. Dafür sind aber weniger innerpsychische Gründe maßgeblich, sondern die mit der Bindung an die Gruppe übernommenen Außenbeziehungen, einschließlich deren emotionaler Elemente. D.h. dieses Verhalten ist Bestandteil der "Gruppenkultur" und verschwindet fast immer im Fall der Dekonversion.

Allerdings gibt es zahlreiche Beispiele dafür, daß bestimmte Erfahrungen (Auditing bei Scientology, ekstatische Erlebnisse, meditative Versenkung usw.) bei einzelnen Personen suchtähnliche Verhaltenweisen hervorrufen. Solche Erfahrungen werden z.T. auch nach dem Ausstieg aus der Gruppe zwanghaft gesucht, dann allerdings außerhalb der Gruppen. Es fragt sich jedoch, ob diese Abhängigkeit von Erlebnissen einen wesentlichen Teil der Abhängigkeit von Personen bzw. der Gemeinschaft bildet, oder ob es sich eher um ein individuelles Symptom handelt. Eine Ähnlichkeit zur stoffgebundenen Sucht liegt in vielen Einzelfällen jedoch sicherlich vor.

Der Vergleich zwischen Sucht und der Bindung an eine extreme Gemeinschaft kann deshalb nur als begrenzt tragfähig eingestuft werden und erweist sich als deutlich abhängig von der jeweiligen Wertung über die spezifische Gruppenkultur.

In dem Sonderfall, daß die Bindung an die Gruppe nicht durch positive Gratifikationen, sondern durch Angst (vor Orientierungs- oder Beziehungsverlust) aufrecht erhalten wird, kann man eine Analogie zur Sucht herstellen.

Psychische Abhängigkeit und Machtausübung

Tragfähiger als die Analogie zur Sucht stellt sich der Vergleich mit anderen starken und exklusiven sozialen Bindungen dar. Aus der Forschung zur Psychologie von Gruppen und diversen Experimenten weiß man um die generelle Verführbarkeit des Menschen durch die jeweilige "Gruppenkultur". Als Gruppen werden Gemeinschaften bezeichnet, bei denen die Zugehörigkeit und die Nichtzugehörigkeit definierbar ist. Das unterscheidet sie von Massen und von Aggregationen, also einem zufälligen Zusammentreffen mehrerer Menschen. Die Gruppe besteht per definitionem aus einer "in-group" und einer "out-group", aus "uns" und "den anderen". Gruppen werden nicht nur durch die Gruppengrenze definiert, sondern auch durch die Beziehungen zwischen den "insidern", die meist über bestimmte Rollen strukturiert sind. Jede Gruppe braucht eine gewisse Anlaufzeit zum Aufbau des "in-group-Gefühls" und zur Ausbildung von Positionen und Rollen.

Die Gestaltung der Innen- und Außenbeziehungen von Gruppen beruht auf der Selbstdefinition einer Gemeinschaft. Sie ergibt sich also aus der Gruppenidentität, die festlegt, wie das Verhältnis der Mitglieder zueinander und zur Außenwelt zu sein hat.

Üblicherweise stellt eine Gruppe nicht die gesamte soziale Umwelt für das Individuum dar, sondern es gehört zu mehreren Gruppen, die unterschiedliche Funktionen haben und unterschiedlich wichtig sind. Dadurch wird der Einfluß jeder einzelnen Gruppe auf das Individuum relativiert, wie er gesteigert wird, wenn der Zugriff von Gruppen auf Individuen singulär und mit dem Anspruch auf Sinnvermittlung verknüpft ist.

Dieses muß auch bei der Beurteilung des Verhaltens von Mitgliedern extremer Gemeinschaften in Rechnung gestellt werden, bevor man zu Erklärungen auf individueller Ebene greift.

Die Gestaltung der Innen- und Außenbeziehungen von Gruppen beruht auf Strukturen ihrer Selbstdefinition und der in Interaktionen mit der Umgebung historisch ausgebildeten Gruppenidentität.

Einige gut untersuchte Eigenschaften von Gruppen sind für das Verständnis des Verhaltens von Mitgliedern extremer Gemeinschaften wichtig:

- Gruppen sind leichter zur gemeinsamen Aggression nach außen zu bewegen, die nach innen zum Erzeugen von Gruppenkohäsion und nach außen zum Erzeugen von Feindbildern genutzt werden kann.

- In Gruppen kommt es immer zu (formellen oder informellen) Hierarchien. Die Rollenverteilung ist, was Autorität angeht, stets asymmetrisch. Die Möglichkeiten der Einschränkung des Einflusses von Ranghöheren unterscheidet nicht selten extreme und sozial angepaßte Gemeinschaften voneinander.

- In Gruppen gibt es einen Effekt, der "Diffusion von Verantwortung" genannt wird, der beim einzelnen die Wahrnehmung geteilter Verantwortlichkeit hervorruft. Dieser kann sich positiv als Ermutigung des Individuums, aber auch als Entmoralisierung des Tuns auswirken. Je exklusiver die Bindung an die Gruppe, desto stärker ist dieser Effekt, so daß man von einer Verführung des Einzelnen sprechen kann.

- Gruppen erzeugen einen Effekt, den man als "risk shift" bezeichnet. Damit ist gemeint, daß Gruppen zur Überwindung von Unentschlossenheit und Zögerlichkeit beitragen. Da Risiken als verteilt und für den Einzelnen unwesentlicher wahrgenommen werden, ist die Bereitschaft zur definitiven Handlung größer. Das kann sich positiv und negativ auswirken: negative Auswirkungen werden dann wahrscheinlich, wenn ranghohe Gruppenmitglieder die Abneigung der Gruppe gegen Abwarten und Abwägen zur Durchsetzung ihrer Interessen und zur Unterdrückung von Kritik ausnutzen.

Die Interpretationen für die Ursachen psychischer Abhängigkeit reichen von der früheren Verhinderung seelischer Reifung oder seelischer Traumatisierung bis zur Abhängigkeit aufgrund komplexer seelischer, sozialer und finanzieller Bindungen. Gemeinsame Grundlage all dieser Interpretationen scheint die Unmöglichkeit einer inneren Distanz zur Gemeinschaft und ihrem überwertigen Selbstbild aufgrund starker unbewußter Ängste zu sein.

Der Beitrag der Konversionsforschung

Die überstarke Bindung an eine Gruppe mitsamt den negativen Folgen, die sich ausbilden können, gehen meist einher mit Akten der Bekehrung (Konversion), die in diesen Gruppen zum Teil auch fest institutionalisiert sind oder jedenfalls sozial erwartet werden und in denen die Übernahme und Anerkennung der gruppeneigenen Plausibilitätsstrukturen erfolgt.

In der wissenschaftlichen Literatur werden vier Faktorenbündel genannt, die zu einer Konversion beitragen:

- begünstigende Faktoren in der Gesellschaft,
- demographische und lebenszyklische Faktoren,
- Faktoren der individuellen Disposition der Konvertiten,
- die durch Werbung, Manipulation und Täuschung von seiten der Gruppen
wirksamen Faktoren.

Wie bereits erwähnt, wird das relative Gewicht dieser Faktoren sehr kontrovers beurteilt und gegnerisch stehen Auffassungen, die das Schwergewicht auf persönliche Befindlichkeiten legen, solchen gegenüber, die eine Überführung in Abhängigkeiten durch manipulatives Vorgehen zu erkennen glauben. Die ersteren sehen die durch eine Bindung ermöglichte (positive oder negative) Bearbeitung von Konfliktlagen, die zweiten betrachten die damit hergestellte Bindung als Ausdruck einer psychosozialen Störung.

Die Frage, ob sich Konvertiten in die Abhängigkeit hineinbegeben oder ob sie abhängig gemacht werden, kann jedoch nicht einseitig beantwortet werden. Offenkundig handelt es sich um ein Interaktionsgeschehen aus Befindlichkeits- und Beeinflussungsfaktoren, das die Entstehung solcher Bindungen erst begreifbar macht.

Die Befunde hinsichtlich der Befindlichkeitsfaktoren sind nicht eindeutig; es werden diskutiert:

- depressive Verstimmungen u.a: Gefühle der Bedeutungs- und Heimatlosigkeit,
- schlechte persönliche und familiäre Situationen, schwere persönliche Krisen,
- sozialer abwärtsmobiler Trend, Arbeitslosigkeit, lebensgeschichtliche
Perspektivlosigkeit,
- religiöse Erklärungsmodelle für Probleme, religiöse Vorprägungen,
- externer "Locus of Control" (Fremdzurechnung von Kausalität, Abhängigkeit vom
Urteil anderer),
- narzistische Persönlichkeitsstruktur,
- Drogenprobleme.

Interessant ist, daß die meisten Untersuchungen eine eher geringe Bedeutung idealistischer oder religiöser Motive feststellen. Es überwiegen alles in allem die aus Schwierigkeiten der innerpsychischen und interpersonalen Existenz gespeisten Motive. Weiterhin stimmen die Untersuchungen darin überein, daß es sich trotzdem nicht um einen psychisch besonders gestörten Personenkreis handelt, sondern daß sich die Problembelastung weithin mit Durchschnittserfahrungen deckt. Als Fazit bleibt, daß die Bereitschaft, sich innerlich stark an extreme, geschlossene Gemeinschaften zu binden, häufig mit Anpassungs- und Lösungsversuchen bei instabilen Innenlagen bzw. labilen sozialen Situationen der Konvertiten zu tun hat.

Das vierte Bündel, die konversionsfördernden Faktoren in Form von Verhaltensweisen und Eigenschaften der Gruppen, gewinnt nur für die Situation der konkreten Begegnung Bedeutung.

Wichtig sind hier:

- die Überzeugungskraft und Vertrauenswürdigkeit der Werber,
- die Anwerbung durch Beziehungspersonen oder das Herstellen positiver
Beziehungen zu Anhängern,
- Effektive Techniken zur Erzeugung von Abhängigkeit.

Die Frage, ob es möglich ist, eine starke Bindung an eine Gruppe durch manipulative Anwerbung - relativ unabhängig von Prädispositionen der Individuen - zu erzeugen, wird in einigen Theorien bejaht. Tatsächlich werden aber meist Maßnahmen der Milieukontrolle in diesem Zusammenhang genannt, die in jeder Gruppe oder Gemeinschaft vorkommen. Die im spezifischen Sinn manipulativen Maßnahmen, die auf eine Schwächung der körperlichen und seelischen Widerstandskraft und Absenkung der Kritikfähigkeit zielen, betreffen unterschiedliche Gruppen in ganz verschiedener Weise, bzw. kommen in vielen extremen Gruppen gar nicht vor.

Bezüglich des Ablaufs des Konversionsvorgangs sind sich die meisten Autoren darin einig, daß dieser Prozeß dreiphasig ist und zunächst eine starke Destabilisierung, also Verunsicherungsphase beinhaltet. Als zweites wird ein neuer Attraktor, also ein neues Denksystem den Personen nahegelegt. In einer dritten Phase wird dieses neue Denksystem stabilisiert. Diese drei Phasen kann man auch bei ganz einfachen Experimenten bei der Bedeutungszuweisung zu Wahrnehmungen und bei der Veränderung dieser Bedeutungszuweisungen nachweisen. Der Prozeß, der hier eine Rolle spielt, ist ein ganz natürlicher und immer wiederkehrender. Die notwendige Destabilisierung kann z.B. dadurch herbeigeführt werden, daß Menschen vermittelt wird, sie seien nicht voll entwickelte Wesen, daß sie gestört seien oder etwas für sich tun müßten. In der zweiten Phase erfahren sie, was das neue Denksystem mit einer eigenen Sprache bedeutet und in der Stabilisierungsphase werden sie von der sozialen Umgebung abgeschottet, sobald sie unsicher werden oder Kritik entwickeln. Dieser Dreischritt tritt immer wieder auf und ist als eine Möglichkeit der geistigen Beeinflussung in der Psychologie sehr wohl bekannt und funktioniert bei sehr vielen offensichtlich perfekt. Unter diesen Mustern von Abhängigkeit gibt es solche, die spezifisch "religiös" sind oder aber, wenn sie in "nicht-religiösen" Kontexten erscheinen, diese zu "religiösen" machen könnten.

Erscheinungsformen psychischer Abhängigkeit

Eine Verallgemeinerung auf der Basis der publizierten Erfahrungsberichte erbringt für den Begriff der "psychischen Abhängigkeit":

- Distanzlosigkeit gegenüber der Gemeinschaft, Willenlosigkeit, scheinbare Zwanghaftigkeit des Verhaltens, persönlichkeitsfremde Verhaltensweisen (gemessen an den Erwartungen Außenstehender),

- Einschränkung oder Verlust der bisher möglichen bzw. vorhandenen Realitätskontrolle,

- starke Fremdbestimmung alltäglicher Lebensvollzüge, gemessen an üblichen Formen der Einflußnahme,

- finanzielle, zeitliche und sexuelle Ausbeutung, (wiederum gemessen an üblichen derartigen Ansprüchen gegenüber anderen Menschen),

- stereotype Reaktionen in der Kommunikation mit Außenstehenden bezüglich der Gemeinschaft, zu der man gehört, insbesondere Kritikunfähigkeit gegenüber der eigenen Gemeinschaft,

- Aufrichten von strikten Wahrheitsgrenzen gegenüber den bisherigen Bezugspersonen (Eltern, Angehörige) und in den übrigen Außenbeziehungen,

- Relativierung, bisweilen sogar Aufhebung der für alle geltenden moralischen Grundsätze,

- externe Attribution von Kausalität im jeweiligen Wahrnehmungsrahmen der Gruppe, wobei dies Außenstehenden unplausibel erscheint (z.B. wenn alle Konfliktursachen nur den "Feinden" der Gruppe zugeschrieben werden),

- ungewöhnliche Konformität in der Anhängerschaft, gemessen am gängigen Spektrum von Verhalten und Habitus weltanschaulicher Gemeinschaften,

- auffallende Verehrung für Autoritäten, Personenkult.

Als Arbeitsbegriff wird "psychische Abhängigkeit" vorgeschlagen für den Sachverhalt einer ungewöhnlich starken und ungewöhnlich exklusiven, deutlich oder sogar überwiegend angstmotivierten Bindung eines Individuums an eine Gemeinschaft, die mit religiöser bzw. weltanschaulichen Begründungen einen umfassenden bis totalen Einfluß auf die Lebensorientierung und Alltagsgestaltung ihrer Mitglieder ausübt.

Der Unterschied zu sonstigen, im Prinzip überall anzutreffenden asymmetrischen Einflußmöglichkeiten und Machtstrukturen besteht darin, daß sich die psychische Abhängigkeit von einer Extremgruppe durch eine starke Verlustangst und deren längerfristige Denk- und Verhaltensfolgen auszeichnet.

Festzuhalten ist, daß im Konstatieren einer Abhängigkeit dieser Art eine kulturelle Wertung enthalten ist, nämlich, daß die zu beobachtende Bindung unangebracht stark sei, daß sie sich für die Betroffenen schädlich auswirke und für unmoralische Einwirkungen mißbraucht werden kann.

5.1.4 Religiöse Abhängigkeit

Die Enquete-Kommission hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die Frage beantworten sollte "Durch welche Merkmale läßt sich religiöse Abhängigkeit bestimmen?" Das unter diesem Titel von Burkhard Gladigow (unter Mitarbeit von Alexandra Gieser) vorgelegte Gutachten stellt unabhängig von der allgemeinen, psychologischen, sozialpsychologischen oder gruppendynamischen Diskussion um neue religiöse Gruppierungen die Frage, in welchem Ausmaß und in welcher Weise spezifisch religiöse Formen von Abhängigkeit angesprochen werden können. Das Gutachten kommt zu folgenden Aussagen:

Obwohl in der Religionsgeschichte seit Schleiermacher Religion über ein frommes Abhängigkeitsgefühl bestimmt wurde, hat die systematische Religionswissenschaft die Frage nach spezifischen Formen religiöser Abhängigkeit nur unzusammenhängend behandelt. Beschreibende Begriffe wie Abhängigkeit, Unterwerfung, Gehorsam, Hörigkeit, Hingabe und ihre Bewertung hängen in der Regel davon ab, ob der jeweilige religiöse Bezugsrahmen gebilligt und akzeptiert wird oder nicht. Die Religionsgeschichte des blinden Gehorsam zeigt, in welchem Ausmaß außerhalb der aktuellen "Sektenproblematik" eine absolute Unterwerfung unter fremde Befehlsgewalt religiöse Maxime werden kann. Bei näherer Betrachtung ergibt sich jedoch kein einzelnes Kriterium, das religiöse Abhängigkeit sicher gegenüber anderer Abhängigkeit differenziert.

Einer spezifischen Behandlung am nächsten kommt die Religionssoziologin Eileen Barker. Sie nimmt eine ausdrückliche Gegenposition zur sogenannten Sektenkritik ein, und führt aus, daß Abhängigkeiten in gleicher Weise und gleichem Maße auch in anderen Bereichen der Gesellschaft hergestellt werden. Obwohl sie den Begriff von Abhängigkeit weit faßt, verneint sie damit eine spezifisch religiöse Abhängigkeit. Allerdings stellt sie Muster und Motive zusammen, die in Strukturen und Modi von Abhängigkeit hineinführen: Motive und Erwartungen der Konversion, das Verhältnis von Bindungen zu Loslösungen, Deutungsansprüche, "heavenly deception" ("himmlische Täuschung"), Suggestionstechniken, Schuld und Scham, Gruppenjargon, ökonomische und soziale Abhängigkeit.

Die direkteste Behandlung des Problems religiöser Abhängigkeit wird von Leo Booth vorgenommen. Er stellt sie in Parallele zu bekannten Suchtformen und stellt in einem Katalog eine Symptomatik religiöser Abhängigkeit auf. Die Anamnese dieser Symptome zeigt jedoch, wie eng sie an den Bedingungen der christlichen Denominationen und ihrer Theologien orientiert ist. Sein Ziel ist es, religiöse Abhängigkeit als Krankheit zu definieren und therapeutisch zur Befreiung von einem mißbräuchlichen, obsessiven Gebrauch von Religion beizutragen, der zum Aufbau einer neuen Freundschaft mit Gott als Ausdruck einer gesunden Spiritualität führen soll. Diese Bestimmung von religiöser Abhängigkeit durch das Sucht-Paradigma reduziert ein hochkomplexes Orientierungsdefizit auf ein physiologisch definiertes Entzugs-Modell. Befriedigendere Konzepte mit breitem Anwendungsbereich lassen sich in der Literatur derzeit allerdings nicht auffinden.

Für die Entstehungsprozesse von sogenannter Abhängigkeit sind vor allem Konversionsmodelle von Belang, die neben den Schritten von Zuwendung und Einbeziehung, eine zunehmende Etablierung religiöser Bindungen und ihrer Strukturen berücksichtigen. Gegenüber älteren Modellen für Konversion hat sich seit den siebziger Jahren eine Einordnung durchgesetzt, die eine bewußte Beteiligung und aktiven Einfluß der konvertierenden Person annimmt und mitbeschreibt. Eine an diesen offeneren Modellen orientierte Forschung sucht im breitesten Sinn die Bedeutungen, mit denen Menschen ihr Verhalten versehen. Damit ist eine Prozeßperspektive in die Diskussion gebracht worden, die in differenzierter Weise den Perspektivenwechsel des Konvertiten in eine Wechselwirkung von Prädisposition mit aktueller Bewegung stellt. Im Ineinander von zufälliger Situation und Rekrutierungsschema besteht ein Dilemma zwischen der "Gewalt" der jeweiligen Lehre und der Wahrscheinlichkeit, Konversionen herbeizuführen. Um dieses zu lösen, werden die potentiellen Mitglieder in einer behutsamen Einführung allmählich "abhängig" gemacht. Soweit die Ergebnisse des Gutachtens.

Es ist dabei allerdings zu berücksichtigen, daß es offensichtlich Menschen gibt, die Situationen und Verhältnisse suchen, die von außen als psychische Abhängigkeitslage bezeichnet werden müssen. In solchen Fällen entsprechen die religiösen Vorgaben der Gruppe den individuellen Bedürfnissen der Menschen.

5.1.5 Ebenen der sozialen Kontrolle und manipulative Elemente

Manipulatives Einwirken von Gruppen auf einzelne ist vielfach belegt. Es scheint jedoch weniger die Interaktionen (Kontaktaufnahme, Konversion, Akkulturation usw.) an sich zu verursachen. Vielmehr dient es der Beeinflussung der Interaktion im Sinne der Gruppenziele und Gruppennormen, wobei man unterscheiden kann zwischen:

- bewußter und gezielter Manipulation (Methoden),
- Manipulation durch sozialen Konformitätsdruck,
- Selbstmanipulation zum Zweck der Anpassung.

Die beiden letzten Formen des Einwirkens sind allgemeiner Teil von Umorientierungs- und Akkulturationsprozessen bzw. des Phänomens der allgegenwärtigen sozialen Kontrolle.

Bei der Verwendung des Begriffs der sozialen Kontrolle muß allerdings beachtet werden, daß sie in allen paradigmatischen Richtungen als Instrument zur Herstellung sozialer Ordnung und nicht als Reaktion auf Devianz gesehen wird. Darüber hinaus ist "soziale Kontrolle" in keiner Theorie als Zwangsmechanismus angelegt, gegen den es keine Handlungsalternativen gibt. Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß es psychotechnische Verfahren gibt, die eine harte soziale Kontrolle ermöglichen und bei denen Handlungsalternativen gering sind.

Die von Hassan festgestellte Milieukontrolle, bestehend aus Verhaltenskontrolle, Gedankenkontrolle, Gefühlskontrolle und Informationskontrolle kann deshalb nicht in jedem Fall prinzipiell als "manipulativ" charakterisiert werden. Eine Kontrolle dieser Handlungsbereiche ist ein unausweichlicher Bestandteil von sozialen Interaktionen in einer Gruppe oder Gemeinschaft. Die mit einer Bindung an eine Gruppe immer verbundene Sozialkontrolle und die einer intentionalen, methodisierten Einwirkung mit dem ausdrücklichen Ziel der Manipulation müssen deshalb klar unterschieden werden.

Das psychologische und moralische Urteil über die Resultate der sozialen Kontrolle hängt vom Urteil über die "Gruppenkultur" ab, der sie entstammen und auf deren Durchsetzung sie zielen. Wenn z. B. ein übersteigerter Autoritätsanspruch der Führung dazu führt, daß Fragen und Kritik in der Gruppe generell nicht möglich sind, stellt sich dies im Zug der "sozialen Kontrolle" des Konvertiten durch die Gruppe als Denk- und Redeverbot für ihn dar, das eventuell durch exzessive Zuwendung kompensiert wird. Es handelt sich jedoch nicht um eine intentionale Manipulationsmethode, sondern um den Versuch, den Konvertiten in die Gruppenkultur einzubeziehen. Insofern muß eine eventuelle Kritik vor allem der Gruppenkultur gelten.

Geplante und gezielte Manipulationsmethoden im engeren Sinn verstoßen dagegen zumindest tendenziell gegen die Grundwerte unserer Gesellschaftsordnung, indem sie das Maß der "Milieukontrolle" soweit steigern, daß die Freiheit des Einzelnen erheblich eingeschränkt oder gar aufgehoben wird.

Auch in diesem Bereich ist es jedoch nicht möglich (bis auf Extremfälle), Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge unabhängig von der Biographie, der Persönlichkeit und der sozialen Situation des Bewerbers festzustellen.

Alle inkriminierten Methoden wie exzessives Meditieren, Schlaf- und Nahrungsdeprivation, endlose Indoktrination in der Gruppe, "Love bombing" usw. hängen in ihrem Effekt maßgeblich von der Befindlichkeit des betroffenen Individuums ab. Weiterhin wird der Effekt erheblich von der Absicht der einwirkenden Personen oder Gruppen bestimmt: Wollen sie z. B. einen durch Schlafdeprivation erzeugten suggestiblen Zustand zum Umgehen vernünftiger Einwände nutzen oder nicht?

Diese Absichten hängen wiederum primär vom Ideen- und Wertesystem der Gruppe ab, nicht von ihren Methoden. Außerdem ist deren Effekt stärker von der "Dosis" abhängig als vom Agens, wie häufig angenommen wird. Mit zunehmender Integration in eine Gruppe und der Abhängigkeit von einer Führerfigur kann es zu einer Art progredientem Sog kommen, der individuell vorhandene Dispositionen zum Wiederholungszwang als auch zur Steigerung der Dosis ("More-Effekt") weiter verstärken kann.

5.1.6 Gefahrenpotentiale

Zusammengefaßt ist das Gefährlichkeitselement vor allem in einer komplexen Kombination von eingriffsintensiven Methoden und Techniken (a), ihrer unprofessionellen Anwendung (b), prekären Elementen der jeweiligen Gruppenkultur oder -organisation (c) und vorhandenen individuellen Prädispositionen (d) zu sehen.

a) Gefährdungen lassen sich nicht an einer bestimmten Technik festmachen. Jede psychologisch oder bewußtseinsverändernd wirksame Methode besitzt ein Risiko. dies gilt für die Richtlinien-Psychotherapie und die weiteren wissenschaftlich evaluierten psychotherapeutischen Verfahren genauso wie für andere Methoden, die am Markt angeboten werden. Eine wirksame Methode wird auch Risiken beinhalten, eine Methode mit wenig "Nebenwirkungen" wird in der Regel auch wenig Wirkung zeigen. Aus der Methode allein kann also nicht auf eine Schädlichkeit geschlossen werden, wohl gibt es aber intensiver wirksame Methoden als andere, was für die Psychotherapie, die Persönlichkeitsentwicklung usw. natürlich nützlich ist.

b) Von größerem Interesse ist die Frage nach der Qualifikation, der Seriosität der Anwender, d.h. nach Ausbildung, Berufserfahrung und Kenntnissen, beispielsweise in der Leitung von Gruppen. Auf dem Markt gibt es eine Fülle von Anbietern, die häufig selbst entwickelte Techniken anbieten und sich selbst bestimmte Titel zulegen. Allerdings muß erkannt werden, daß die Psychotherapie heute noch kein integriertes Gebiet darstellt und noch sehr auf Entwicklungen angewiesen ist, die bisher in einer kreativen Subkultur entstanden sind, wenn man beispielsweise an die Gestalttherapie, das Psychodrama, gewisse systemische Ansätze u.a. denkt. Eine Eingrenzung der Anwendung von psychologisch wirksamen Techniken auf Ärzte oder Psychologen wäre unsinnig, da häufig auch in Sozialarbeit, Pädagogik, Supervision, Theologie und Seelsorge solche Techniken mit Erfolg angewandt werden. Der Markt erscheint zu breit, um derzeit verbindliche Standards für Anwender festlegen zu können.

c) Ein bedeutsameres Gefahrenpotential scheint von Organisationen auszugehen, innerhalb derer bestimmte Methoden angewandt werden. Gelingt es Organisationen, Abhängigkeitspotentiale zu erzeugen, dann können bestimmte Techniken durch die längerdauernde Wirkung und Beeinflussung eben auch intensivere oder schädlichere Folgen haben. Regelmäßig zu fragen ist also danach, wie abhängig und hörig macht eine Organisation und mit welchen Mitteln sucht sie dies zu erreichen? Wie stark dominiert und beutet sie ihre Anhänger aus? Nach bisher vorliegenden klinischen Erfahrungen sind die Wirkungen des Gruppendrucks und der moralischen Beeinflussung weit höher als die einer bestimmten Methode. Die vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen entwickelten Kriterien zur Beurteilung von "destruktiven Kulten" bieten Anhaltspunkte zur Einschätzung des Gefahrenpotentials, das von bestimmten Strukturen ausgehen kann. Es muß allerdings anerkannt werden, daß auch andere autoritäre Erziehung mit religiösem Hintergrund, in der etwa mit Gewalt Gottesdienst und Beten erzwungen werden, ähnliche Folgen hinterläßt, wie die Auswirkungen dogmatischer Gemeinden oder Gruppen. Die Wirkungsmöglichkeiten dieser Gruppierungen sind wesentlich massiver als die der meisten Psychogruppen.

d) Das entscheidende Kriterium zumindest aus klinischer Sicht, stellt die Persönlichkeitsstruktur desjenigen dar, der an einer bestimmten Gruppe oder Maßnahme teilnimmt. Ein entsprechend kranker oder labilisierbarer Mensch kann eben leichter dekompensieren, wenn er psychisch überfordert ist. Dabei wirken offenbar die vier beschriebenen Faktoren zusammen:

- eine kranke oder schwache Persönlichkeit,

- das Ausmaß und die Wirksamkeit, also die Intensität der Methode,

- die Totalität und der Gruppendruck einer Organisation sowie

- die Qualifikation und Seriosität eines Anbieters und dessen Mißbrauchsneigung.

Angesichts der in ihrem komplexen Zusammenspiel bisher schwer greifbaren und unüberschaubaren Situation besteht v.a. in epidemiologischer Hinsicht Forschungsbedarf: Allgemeine Urteile zu diesem Themenfeld beziehen sich bisher in der Regel auf auffällige Einzelfälle. Über die tatsächliche Häufigkeit der Inanspruchnahme von psychologisch wirksamem Wissen oder bewußtseinsverändernden Techniken bzw. Maßnahmen existiert kein epidemiologisch verwertbares Wissen, das die Allgemeinheit oder Unangemessenheit bestehender Urteile zu rechtfertigen oder zu widerlegen erlaubte.

Weiter zu verfolgende Fragen in diesem Zusammenhang wären, in welchem Ausmaß welche Teile der Bevölkerung an welchen psychologisch wirksamen Veranstaltungen außerhalb des Gesundheitswesens und der durch öffentliche oder kirchliche Träger vermittelten Beratungen teilnehmen oder diese autodidaktisch anwenden, welche Motivation dazu vorliegen, welche positiven und negativen Erfahrungen dazu gemacht werden, welchen Umfang der spezifische Bereich religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen einnimmt, welche Nebenwirkungen psychologisch wirksame Techniken besitzen, welche (typischen) Störungen und Krisen auftreten können und welche Hilfen dafür angemessen sind.

Erst auf der Basis einer interdisziplinär angelegten Forschung aus Soziologie, Psychologie, Psychiatrie und möglichen anderen Gebieten können rational begründete Leitlinien im Umgang mit diesem Thema formuliert werden, Schädlichkeitsgrenzen beschreiben werden und möglicherweise auch Mißbrauchspotentiale gesetzlich eingeschränkt werden.

5.1.7 Zwischenresümee

Die von außen wahrgenommenen Verhaltens- und Denkweisen, die als "psychische Abhängigkeit" von einer extremen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft beschrieben werden, lassen sich fachlich verstehen als Folgen einer ungewöhnlich starken Bindung des Einzelnen an eine Gemeinschaft, die durch ihre exklusive Selbstdefinition als Sinn- und Werteinstanz und durch die Konkretisierung dieses Selbstverständnisses in hierarchischen Machtstrukturen ein hohes Maß an Sozialkontrolle ausübt, ein hohes Maß an Gegnerschaft gegenüber der Umwelt erzeugt und hohe Investitionen an Zeit, Geld und Dienstleistungen für die Gruppe und ihre Führung von den Mitgliedern fordert.

Eine Reihe von vorliegenden und vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Arbeiten lassen erkennen, daß ein enger Zusammenhang zwischen der Lebensorientierung bzw. der Persönlichkeit von Individuen sowie dem Angebots- und Anforderungsprofil von Gemeinschaften besteht, denen sie sich zuwenden. Ebenso steht fest, daß innerpsychische bzw. soziale Labilität einen wichtigen Faktor bei allen biographischen Umorientierungen bildet. Von daher erscheinen die Interaktionen zwischen Individuum und Gemeinschaft als Teile eines Such- und Anpassungsverhaltens, das durch psychische Manipulation der Gruppe weder erzeugt noch ersetzt, wohl aber gelenkt werden kann. Die Bereitschaft zur Umorientierung und die "Paßform" der Persönlichkeit für die Gruppe sind nicht nur Ergebnis von Gruppeneinwirkungen, sondern von biographischen und gesellschaftlichen Faktoren.

Der Umkehrschluß, daß eine bestimmte Befindlichkeit notwendigerweise zur Interaktion mit einer bestimmten Gruppe führt, oder daß die Biographie eben dadurch den bestmöglichen Fortgang nimmt, gilt jedoch nicht. Vielmehr gibt es für die meisten betroffenen Personen zahlreiche Möglichkeiten biographischer Umorientierung, und aus psychologischer und pädagogischer Sicht würden viele davon bessere Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen und Gefahren eher vermeiden, als die Hinwendung zu einer radikalen, konfliktträchtigen Gemeinschaft.

5.1.8 Möglichkeit und Notwendigkeit staatlicher Einflußnahme

Nach derzeitig erkennbarer Sachlage und den verfügbaren Daten ist es nicht möglich, sitten- und rechtswidrige Methoden durch eine Auflistung von Typen bzw. Wirkungsweisen von vertretbaren, rechtmäßigen Methoden abzugrenzen. Extreme werden bereits vom Strafrecht erfaßt (Nötigung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Wucher usw.).

Der Begriff der psychischen Abhängigkeit kann als sogenannte innere Tatsache in der Regel nicht als Anknüpfungsmerkmal für staatliches Handeln benutzt werden. Der Staat knüpft in der Demokratie an sozialen Handlungen an. Zum Gegenstand staatlichen Handelns können allenfalls solche Handlungen gemacht werden, die auf die systematische Erzeugung innerer Befindlichkeiten abzielen: Pädagogik, Therapie, Training etc. Damit einhergehende, beabsichtigte oder nicht beabsichtigte, Persönlichkeitsveränderungen sind stark wertungsabhängig und lassen sich nicht von einem "archimedischen Punkt" aus eindeutig klassifizieren. Wie bestimmte Therapien eine gezielte Destabilisierung als Voraussetzung für die Erzielung von Veränderungen beinhalten, werden in der Meditationspraxis spirituelle Krisen als notwendig für persönliches Wachstum angesehen.

Es bedürfte eines professionellen Einverständnisses oder Konsenses zur Beurteilung der damit verbundenen Sozialisationsprozesse oder einer Therapieethik, die Grenzen der absichtsvoll erzeugten Persönlichkeitsveränderung aufzeigt. Es ist hier lediglich möglich, die Einwirkungsmethoden in eine Rangfolge zunehmender Risiken zu bringen, orientiert daran, wie stark sie analog zu psychotherapeutischen oder medizinischen Eingriffen dazu geeignet sind, Persönlichkeitsstruktur, Identität, Verhaltensmuster, Gefühlswelt usw. einer Person zu verändern. Staatlicherseits ist davon auszugehen, daß den Anbietern mit zunehmendem Risiko ihrer "manipulativen" Einwirkungsmethoden auch zunehmende Verantwortung für die Folgen zukommt. Diese Verantwortung ist wiederum analog zu den Vorsichtsmaßnahmen zu beurteilen, die in Medizin und Psychotherapie für notwendig gehalten werden.

In der öffentlichen Tagung der Enquete-Kommission zum Thema "Psychotechniken" am 14.04.1997 wurde auf eine solche Verantwortung in Form einer Verpflichtung zur Warnung vor "Nebenwirkungen" hingewiesen. Diese hat Eingang gefunden in die Vorschläge zu einem Lebensbewältigungshilferecht, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, auf das hier lediglich verwiesen wird.

Weiterhin wurde in der Anhörung auf die Möglichkeit eines "Schutzes des Individuums vor seinen eigenen Schwächen" hingewiesen. Auch dies ist in Form von Rücktrittsrechten berücksichtigt und eingearbeitet. Bei geschlossenen Gruppen könnte über die Einrichtung von Noviziaten nachgedacht werden, wie sie bei klösterlichen Gemeinschaften Usus ist. Sichergestellt sein muß, daß jeder unter fairen Bedingungen aus einer solchen Gemeinschaft austreten kann.

Die geforderte Lizensierung der Psychotherapeutentätigkeit hat bereits in Form des neuen Gesetzes zur Regelung der Therapeutentätigkeit Gestalt angenommen. Die ebenfalls in der Anhörung geforderten Erweiterungen auf die Bereiche von Lebenshilfe und Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung sind zum Teil verwirklicht im genannten Entwurf zu einem Lebensbewältigungshilferecht.

Die ebenfalls in der Anhörung angemahnte Lösung der Abgrenzungsprobleme zu Erziehung und Bildung könnte insofern ein heikles Unterfangen darstellen, als sich auch innerhalb des herkömmlichen Weiterbildungssektors immer häufiger Maßnahmen mit Elementen der Persönlichkeitsentwicklung finden und als solche explizit auch gefordert werden. Aber nicht nur die primär mit Blick auf das Führungspersonal erhobenen Forderungen von therapeutischen Methoden für "Normale", sondern auch die Vorstellungen vom "lebenslangen Lernen" als Notwendigkeit für jeden Arbeitnehmer - nicht nur auf der Ebene seiner technischen Qualifikationen, sondern seiner Verhaltenssteuerung -, transportieren zum Teil die Bereitschaft zur lebenslangen Selbst- und Fremdsozialisation mit.

Vor dem Hintergrund einer möglicherweise erheblichen Übergangszone zwischen Bildung und Persönlichkeitsveränderung und der prinzipiellen sozialen und ökonomischen Erwünschtheit einer weitreichenden Bereitschaft, auch zu psychischer Mobilität, stellt eine solche Abgrenzung ein eher schwieriges Unterfangen dar.

5.1.9 Ethische Normen, Selbstverpflichtungsstandards, (moralische) Appelle

Eine metatheoretische Kritik von Eingriffen in die Persönlichkeit, die sowohl mit (quasi-) therapeutischen als auch mit "spirituellen" Elementen arbeiten, muß erkennen, daß die Bewertung derartiger "Behandlungen" nach den Kriterien "gesund" oder "ungesund" überwiegend von der gesellschaftlichen Anerkennung der therapeutischen Methoden oder derjenigen abhängt, die diese Methoden praktizieren.

Aussagen über die Nützlichkeit "spiritueller" Elemente im therapeutischen Geschehen können vom Staat nicht getroffen werden. Da über Nützlichkeit und Schädlichkeit von Therapien generell Dissens besteht, beginnt hier ein Streit, der vom Staat allein nicht entschieden werden kann. Er kann über einen rein "moralischen" Appell an die Streitpartner hinaus die Entwicklung von selbstverpflichtenden Regeln bezüglich der Anwendung von Wissensbeständen empfehlen. Dort allerdings, wo aufgrund therapeutischer Verfahren Gefahren für die Gesundheit eintreten, ist der Staat aufgerufen, dies zu unterbinden

Die Entwicklung und Förderung einer allgemeinen Therapieethik als gemeinsamen Bezugspunkt für die Auseinandersetzung sowohl zwischen den Trägern der Hauptkonfliktlinien, als auch für die im Einzelfall maßgeblichen Konfliktparteien, gehört in den Bereich institutioneller Empfehlungen.

5.1.10 Institutionelle Empfehlungen

Empfehlungen an betroffene, wie im Einsetzungsbeschluß bereits vorgeschlagen, oder neu zu schaffende gesellschaftliche Institutionen, könnten sich neben den bereits erwähnten Maßnahmen vor allem auf eine geregelte(re) Austragung des Weltanschauungsstreits beziehen, aber auch auf konkrete (außergerichtliche) Schlichtung von Konfliktfällen.

Bereits existierende Vorschläge sprechen von "Mediations-Institutionen", die angesichts einer möglichen Zunahme religiös motivierter Konflikte eingerichtet werden könnten. Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit könnte auch zu einem Gütesiegel darüber entwickelt werden, ob sich die Mitglieder an bestimmte gesellschaftliche Spielregeln halten oder nicht.

Auf der Basis konkreter Streitfälle wäre auch eine vorgerichtliche Zusammenführung von Konfliktparteien mit dem Ziel der materiellen und ideellen Schlichtung denkbar.

Sowohl in der Form der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen als auch in der bei Ehescheidungen zunehmend praktizierten Mediation und beim sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich im Strafrecht liegen praktizierte Institutionen und Verfahren vor, die für eine weitere Ausarbeitung dieser Vorschläge möglicherweise nutzbar gemacht werden könnten. Da diese Vorstellungen in den Entwurf einer Stiftungsidee eingehen werden, wird hier wiederum nur darauf verwiesen (s. in den Kapiteln 5.5.5.1 und 6.2.2.1).

Dasselbe gilt für die Förderung der Entwicklung einer allgemeinen Therapieethik.

5.1.11 Empfehlung zur Forschungsförderung für eine weitere Erhellung des
Problemfeldes

Für den Bereich Bildung/Weiterbildung sollte eine spezifische Forschungsförderung bei geeigneten Institutionen betrieben werden, da bestimmte Tendenzen wie der Zwang zum "lebenslangen Lernen" die Ausbreitung immer weiterer (auch unseriöser) Angebote im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung und -modifikation begünstigt. Die zunehmende Verbetrieblichung von Weiterbildung hat zudem eine Umverteilung der Definitionsmacht über diesen Bildungsbereich zur Folge.

Da im Bereich der beruflichen Weiterbildung absolut und relativ die meisten Weiterbildungsmaßnahmen stattfinden, hätte eine völlige Enthaltsamkeit der staatlichen Normierungsmacht auch gesellschaftliche Auswirkungen, die über Betriebsgrenzen weit hinausreichen.

Da insbesondere Inhaber von Positionen mit dispositiven Befugnissen als Zielgruppe für den Verkauf von Sozialtechniken in Frage kommen, wären quantitative und qualitative Erkenntnisse über Auswirkungen auf Betriebsklima, innerbetriebliche Herrschaftsausübung und -sicherung im Gefolge von Persönlichkeits- und Managementtrainings wünschenswert.

Weitere Forschung in diesem Bereich sollte über die impressionistischen und episodischen Eindrücke hinausgehen, ob gerade der betriebliche Kontext von bestimmten Gruppen oder Anbietern unter Ausnutzung seiner besonderen Bedingungen für Anwerbungs- und Rekrutierungstrategien gezielt aufgesucht wird.