CESNUR - center for studies on new religions

«Alternative zum Fundamentalismus ist konservativer Islam»
Interview mit Massimo Introvigne

(ZENIT.org, Nov. 9, 2004)

ROM – Der Gründer und Leiter des „Centro Studi sulle Nuove Religioni”, eines Studienzentrums für neue Religionen, hat in einem Buch das komplexe Phänomen des Fundamentalismus analysiert. Es trägt den Titel “Fondamentalismi. I diversi volti dell’intransigenza religiosa” (“Fundamentalismen. Die verschiedenen Gesichter der religiösen Unnachgiebigkeit“) und ist im Verlag Piemme erschienen.

In einem Interview mit ZENIT erklärt Massimo Introvigne die unterschiedlichen Formen des Fundamentalismus und vertritt die Ansicht, dass die Alternative zum derzeitigen islamischen Fundamentalismus ein konservativer Islam ist. Introvigne ist Mitarbeiter der Zeitschrift “Terrorism and Political Violence”, eine der einflussreichsten akademischen Zeitschriften, die sich mit dem internationalen Terrorismus auseinandersetzen. Der Autor war auch in der Lehre tätig und hielt Ausbildungskurse für die „Critical Incidents Response Group“ des FBI und für Nahost-Sicherheitsexperten.

Entfacht eine unsichere und geschwächte Welt den religiösen Fundamentalismus?

Introvigne: Alles hängt von der Definition eines “Fundamentalisten” ab, die nicht eindeutig ist. In meinem Buch untergliedere ich die religiöse Frage in fünf Bereiche: ultra-progressiv, progressiv, konservativ, fundamentalistisch und ultra-fundamentalistisch. Es gibt einige Kriterien, um diese fünf Bereiche zu unterscheiden, einige davon sind recht technisch.

Können Sie mir eines nennen?

Introvigne: Die Einstellung zur nach-aufklärerischen Trennung in Religion und Kultur, also auch in Religion und Politik. Der Progressive akzeptiert es, dass diese Trennung unvermeidlich ist; der Ultra-Progressive akzeptiert sie mit Begeisterung. Der Fundamentalist lehnt die Trennung prinzipiell ab, ist jedoch offen für unvermeidliche Kompromisse; der Ultra-Fundamentalist ist zu keinem Kompromiss bereit und trennt sich radikal von der Gesellschaft und versucht sie, mit Gewalt umzustürzen. Der Konservative (eine Position, welche zahlenmäßig die Mehrheit der Bevölkerung weltweit einnimmt, die sich als religiös bezeichnet) akzeptiert weder die radikale aufklärerische Trennung noch die fundamentalistische Zusammenführung von Religion und Kultur: Er möchte eine Unterscheidung ohne Trennung, eine Autonomie der Kultur und der Politik, welche die Religion nicht daran hindert, ihren Beitrag auf diesem Gebiet zu leisten.
Aus politischen Gründen, ob es nun um den Islam oder um Europa geht, bezeichnen bestimmte Medien die Konservativen, die Fundamentalisten und die Ultra-Fundamentalisten gleichermaßen als „Fundamentalisten“. Aber das sind sehr unterschiedliche Positionen. Im Islam ist der türkische Premierminister Erdogan ein Konservativer, der Prediger von “Al-Dschasira” Quaradawi ist ein Fundamentalist, und Bin Laden ein Ultra-Fundamentalist. Im christlichen Milieu sind sowohl Bush als auch Buttiglione Konservative, aber die politische Polemik stempelt sie als „Fundamentalisten“ ab.

Was will ein religiöser Fundamentalist? Sicherheit, eine Rückkehr in die Vergangenheit, sterben und wieder geboren werden?

Introvigne: Auch hier ist der Unterschied zwischen Konservativen, Fundamentalisten und Ultra-Fundamentalisten entscheidend. Ich würde sagen, dass keiner der drei zurück in die Vergangenheit möchte. Besonders im Islam ist der Fundamentalismus eine moderne Form, die versucht, mit den politischen Mitteln des 20. Jahrhunderts die islamische Gesetzgebung wieder herzustellen. Er unterscheidet sich von traditionalistischen Formen (wie jenen in Saudi-Arabien, die von ihren Gegnern –nicht aber von ihren Anhängern – Wahabiten genannt werden), die traditionelle Mittel verwenden und sich mehr auf die Moral als auf die Politik konzentrieren.

Gibt es eine Beziehung zwischen Wirtschaft und Fundamentalismus oder ist dies ein „spirituelles“ Thema?

Introvigne: Wenn die soziologische Schule, die mich inspiriert, vom “religiösen Markt” spricht oder von der “religiösen Wirtschaft”, verwendet sie ökonomische Mittel und Modelle, um die Religion zu erforschen. Aber das ist eine methodologische Einstellung, und es soll überhaupt nicht bedeuten, dass Religion oder Fundamentalismus auf ein Phänomen reduziert wird, das hauptsächlich wirtschaftliche Beweggründe hat.

Trägt der Westen Verantwortung für das Aufkommen des islamischen Fundamentalismus?

Introvigne: Ja, weil er nationalistische und laizistische Regimes begünstigt hat – man denke an die Militärdiktaturen im Maghreb und an Saddam Hussein, der lange vom Westen unterstützt wurde –, die mit dem gleichen Eifer Konservative, Fundamentalisten und Ultra-Fundamentalisten unterdrückt haben. Wenn alle unterdrückt werden, sind die einzigen, die im Untergrund funktionieren können, die Ultra-Fundamentalisten.

Die Unterdrückung, welche den Fundamentalismus zunichte machen sollte, begünstigt in Wirklichkeit seine extremste Form. Was meinen Sie?

Introvigne: Im allgemeinen leidet der Westen an einer Art “Voltaire-Syndrom” (auf krampfhafte Weise vor allem in Frankreich), weshalb er progressive und ultra-progressive Muslime sucht, die es entweder nicht gibt, oder es sind Generäle, die nur darauf warten, mit Waffengewalt zu regieren, oder Intellektuelle, die an europäischen Kongressen teilnehmen, jedoch weder in ihren eigenen Ländern noch in der Emigration wirklich zählen. Die Alternative zum Fundamentalismus ist nicht der progressive, sondern der konservative Islam.

Wie sehen Sie als Experte die nahe Zukunft hinsichtlich des Fundamentalismus islamischen Ursprungs? Wird er sich ausbreiten?

Introvigne: Ich würde sagen: Nein. Wenn die religiösen Märkte sich öffnen und die Demokratie ihm ein normales Funktionieren ermöglicht, siegt der konservative Islam über den fundamentalistischen, wie es die Fälle der Türkei, von Malaysia und von Indonesien zeigen.

Was denken Sie über den laizistischen Fundamentalismus? Ist das ein neues Phänomen?

Introvigne: Der Antiklerikalismus ist ein altes Phänomen. Dennoch ist der laizistische Fundamentalismus, wie er sich in Frankreich in den Gesetzen gegen die sogenannten „Sekten“ und gegen die religiösen Symbole zeigt, oder in der Europäischen Union im Fall Buttiglione, eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Religion, die gemäß den Laizisten verschwinden sollte, in neuen und unvorhergesehenen Formen zurückkehrt.

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