3.7 Soziale und psychische Auswirkungen der Mitgliedschaft in neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen

Wie bei allen sozialen Phänomenen werden neben problematischen Aspekten im Falle neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen auch unproblematische Gesichtspunkte diskutiert.

Zu den negativ gewerteten Aspekten ist zweifellos das mit einigen neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen verbundene Konfliktpotential zu zählen. Dagegen wird darauf hingewiesen, daß für einige Menschen die Mitgliedschaft in diesen Gruppen soziale Bezugsfelder bietet, die sie sonst entbehren müßten.

Diese Aspekte sind in der internationalen wissenschaftlichen Literatur diskutiert. Die Enquete-Kommission hat sich daher entschlossen, zu diesem Bereich keine eigene aufwendige empirische Studie, sondern ein literaturauswertendes Gutachten zur Frage der sozialen und psychischen Auswirkungen der Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen zu vergeben.

Im folgenden werden die wesentlichen Ergebnisse dieser Studie vorgestellt.

Das Erkenntnisinteresse für diesen Bereich bezieht sich auf die folgende Hauptfrage, inwieweit die Mitgliedschaft psychisch und sozial den Menschen in neuen religiösen Bewegungen beeinflusse?

Die der Enquete-Kommission vorgelegte Studie sei methodisch auf eine internationale Literaturauswertung aus psychologischer Perspektive, vorwiegend aus dem anglo-amerikanischen Raum, bezogen. Grundlage der Auswertung seien die Einbeziehung von Datenbankrecherchen und Bibliographien, insbesondere Review-Artikel, Meta-Analysen, quantitative empirische Studien sowie wichtige qualitative Arbeiten (allerdings keine Einzelfallanalysen und Aussteigerberichte, da diese eine mangelnde repräsentative Aussagekraft und Reichweite besäßen). Der Gutachter weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Übertragung der Ergebnisse seiner Auswertung der internationalen Literatur auf die deutsche Situation weiterer Forschung bedürfe.

Zum Thema der Rekrutierung sei festzustellen, daß dieses kein passives Geschehen sei. Der Rekrut sei vielmehr aktiv am Prozeß der Konversion beteiligt.

Insgesamt könne die Mitgliedschaft religionspsychologisch als Bekehrung verstanden werden. Nicht auf alle Menschen träfe jedoch eine Empfänglichkeit für Angebote neuer religiöser Bewegungen zu. Häufig gehe der Mitgliedschaft eine Zeit der emotionalen Labilisierung und Orientierungslosigkeit voraus. Hinweise ließen dabei auf einen vermehrten Anteil prämorbider Persönlichkeiten bei den Mitgliedern schließen. Diese schienen sich allerdings durch die Mitgliedschaft oft psychisch und sozial zu stabilisieren.

Besonders ansprechbar für eine Mitgliedschaft seien Menschen in der Adoleszenz, weniger Menschen im mittleren Alter, wobei dieses je nach Gruppe unterschiedlich sein könne. Eine übereinstimmende "Sekten-Persönlichkeit" existiere danach nicht. Daher sei die Vorstellung einer einheitlichen Konzeption neuer religiöser Bewegungen zu verwerfen.

In bezug auf die in einigen Gruppen verwendeten Meditationstechniken seien unheitlich Erkenntnisse festzustellen. Mit diesen ließen sich sowohl positive wie negative Erfahrungen machen. Entscheidend dabei seien Merkmale der Person, der Technik und des Settings. Darüber hinaus verwiesen einige Teile der für das Gutachten verwendeten Literatur auf therapeutische Effekte durch die Mitgliedschaft. Dieser Bereich sei allerdings noch weitgehend ungeklärt.

In aller Regel sei der freiwillige Ausstieg aus neuen religiösen Bewegungen ohne Hilfe möglich. Die Loslösung werde aber als ausgeprägte Krise mit starker Labilisierung wahrgenommen. Das sei jedoch weniger ein Ausdruck einer "Destruktivität" der vorherigen Erfahrung der Mitgliedschaft. Vielmehr stelle dies eine Begleiterscheinung dar, die mit jedem emotional bedeutsamen Rollenwechsel verbunden sei. Notwendig und hilfreich könne hierbei professionelle Hilfe sein.

Entscheidend für eine spätere Bewertung der Mitgliedschaft durch das ehemalige Mitglied sei in diesem Zusammenhang die Art des Ausstiegs. Deutlich negativer werde eine Mitgliedschaft des Ehemaligen rückschauend bewertet, wenn ein gewaltsamer Ausstieg stattgefunden habe - im Gegensatz zu demjenigen, der eine Gruppe aus eigenem Antrieb verließe.

Zum Komplex der "Psychischen Folgen der Mitgliedschaft" könnten nicht alle Aspekte und Fragen eindeutig geklärt bzw. beantwortet werden. Es ließen sich trotzdem einige Feststellungen treffen. Eine generelle Schädlichkeit ließe sich bei der Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen nicht bestätigen. Das psychische Empfinden der Mitglieder sei nach den vorliegenden empirischen Studien in einem Normbereich, vergleichbar mit den Teilen der Bevölkerung, die nicht Mitglieder seien.

In Zeiten kritischer Entwicklungsphasen (z.B. Adoleszenz) könne Religiosität ein relevanter Faktor sein. Dabei könne sie als hilfreich oder hemmend erlebt werden. Unterschiedlich zu bewerten seien die Zugänge zu einer jeweiligen Gruppe oder Orientierung. Dabei sei zu beachten, ob eine Mitgliedschaft durch Geburt oder in der Zeit der Adoleszenz aus eigenem Antrieb erfolge. Dieser Bereich und diese Dynamiken seien bislang nur unzureichend erforscht.

Zusammenfassend ließen sich folgende Ergebnispunkte des Gutachtens nennen:

- Weder die Annahme einer allgemeinen Destruktivität noch einer generellen prämorbiden Persönlichkeit ließe sich bestätigen.

- Krisenhafte Lebensphasen und eine emotionale Labilisierung schienen jedoch häufig einer Mitgliedschaft vorauszugehen.

- Von einer übereinstimmenden "Sekten-Persönlichkeit" sei aufgrund der unterschiedlichen psychischen Struktur der Mitglieder je nach gewählter Gruppe nicht auszugehen.

- In aller Regel unterschieden sich die Persönlichkeitsmerkmale von Mitgliedern nicht von entsprechenden Gruppen in der allgemeinen Bevölkerung.

- In den meisten Fällen sei ein Ausstieg aus einer Gruppe ohne fremde Hilfe möglich. Diese Erfahrung müsse jedoch als labilisierend und traumatisch angesehen werden.

- Dabei sei nicht zwangsläufig ein Rückschluß auf die Gruppe zu ziehen, sondern u.a. auch auf sozialpsychologische Prozesse des Rollenwechsels.