Sondervotum der Arbeitsgruppe der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppe", Dr. Angelika Köster-Loßack, MdB, und Prof. Dr. Hubert Seiwert zum Endbericht

I. Einleitung 4081. Gegenstand der Kommissionsarbeit. 4082. Informationsquellen. 409II. Darstellung der Untersuchungsergebnisse 4111. Erkenntnisse zum Bereich neue religiöse Bewegungen 411a.. Quantitative Aspekte 412b.. Individuelle Aspekte: Konversion, Mitgliedschaft und "Ausstieg" 413c. Einzelne Themenbereiche 424d. Analyse nach den Vorgaben des Einsetzungsbeschlusses 4382. Erkenntnisse zum Bereich "Psychomarkt" und "Psychogruppen" 448a. Abgrenzung und quantitative Aspekte 448b. Ergebnisse der Untersuchung zum "Psychomarkt" 449c. Ergebnisse der Untersuchung zu "Psychogruppen" 450d. Analyse nach den Vorgaben des Einsetzungsbeschlusses 453e. Zwischenresümee 456f. Scientology 4562. Okkultismus und Esoterik; Satanismus; Strukturvertriebe 463a. Okkultismus/Esoterik 463b. Satanismus 464c. "Strukturvertriebe" 466III. Bewertung der Erkenntnisse 4671.. Schwierigkeiten der Bewertung in religiösen und weltanschaulichen Konflikten 4672. Konflikte um neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen 469a. Gegen neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen erhobene Vorwürfe 471b. Gesellschaftliche Konflikte und Minderheitenschutz 473c. Resümee 4763. Scientology 4774. Zum Problem der psychischen Destabilisierung und Manipulation 4785. Zusammenfassung der Bewertung 479IV. Handlungsempfehlungen 4811. Konfliktreduzierung und Förderung religiöser und weltanschaulicher Toleranz 4812. Verzicht auf den Begriff "Sekte" in staatlichen Äußerungen 4833. Einrichtung einer Stiftung 4844. Forschungsförderung 4855. Beratungsstellen 4866. Selbstkontrolle statt Gesetz zur Lebensbewältigungshilfe 4887. Veröffentlichung von Gutachten und Forschungsergebnissen 491

  • Vorbemerkungen
  • Wir stimmen dem Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Sogenannte Sekten und Psychogruppen nicht zu, weil wir aufgrund der der Kommission vorliegenden Erkenntnisse zu einer anderen Bewertung des Untersuchungsgegenstandes als die Kommissionsmehrheit kommen. Deshalb geben wir auch andere Handlungsempfehlungen. Wir schließen uns allerdings insbesondere folgenden Abschnitten des Mehrheitsberichtes an: 3.5. Psychomarkt, soweit es um die Darstellung der Ergebnisse der Studie geht; Abschnitt 5.2. Kinder und Jugendliche in neuen religiösen Bewegungen und Psychogruppen. Wir schließen uns auch der Darstellung der von der Kommission in Auftrag gegebenen Gutachten zu den "Einstiegswegen und Mitgliedschaftsverläufen in sogenannten Sekten und Psychogruppen" an. Dieser Teil ist dem Mehrheitsbericht als Anhang beigefügt.

    Nicht zustimmen können wir dem Gesamttenor des Mehrheitsberichtes. Wir halten es für notwendig, bei der Analyse scharf zwischen neuen religiösen Bewegungen und religiösen Minderheiten ("sog. Sekten") einerseits, sowie "Psychogruppen" und "Psychomarkt" andererseits zu unterscheiden. Die Vermischung dieser Bereiche trägt nicht zur notwendigen Differenzierung bei. Eine darüber hinausgehende Ausweitung des Gegenstandsbereichs auf bestimmte wirtschaftliche Vertriebsformen ("Strukturvertriebe", "Multi-Level-Marketing") ist nach unserer Auffassung im Kommissionsauftrag nicht enthalten.

    Nach dem Beschluß des Deutschen Bundestages ist die Kommission "zu den durch neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen, sogenannte Sekten und Psychogruppen, entstandenen Problemen" eingesetzt. Damit ist der Untersuchungsgegenstand eindeutig auf den Bereich "neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen" begrenzt.

    Bei der Bewertung der der Kommission vorliegenden Erkenntnisse über neue religiöse Bewegungen können wir uns dem Bericht der Kommissionsmehrheit nicht anschließen. Dies gilt insbesondere für die Bewertung der Ergebnisse der von der Kommission in Auftrag gegebenen Forschungen und Gutachten und den daraus zu ziehenden Folgerungen. Diese Forschungsergebnisse zeigen übereinstimmend, daß von neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen in der Regel keine Gefahren ausgehen, die über das hinausgehen, was in vergleichbaren sozialen Kontexten zu beobachten ist. Angesichts in der Öffentlichkeit bestehender Befürchtungen halten wir dies für das wichtigste Ergebnis der Kommissionsarbeit.

    Dieser grundsätzliche Befund bedeutet jedoch nicht, daß in diesem Bereich nicht gesellschaftliche Konflikte auftreten können und auch auftreten. Die Mehrzahl dieser Konflikte liegt nach den vorliegenden Ergebnissen allerdings im Bereich dessen, was in einer pluralistischen Gesellschaft an gesellschaftlichen Konflikten üblich ist. Wo es zu Mißbräuchen und Gesetzesübertretungen kommt, müssen die für alle geltenden Gesetze angewandt werden.

    Die Vielzahl der von der Kommissionsmehrheit beschlossenen Handlungsempfehlungen kann den Eindruck vermitteln, daß im Bereich neuerer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen erhebliche Probleme bestünden, die über das hinausgehen, was auch in anderen Bereichen der Gesellschaft zu beobachten ist. Dies widerspricht nach unserer Auffassung den tatsächlichen Erkenntnissen der Kommission. Die von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagenen gesetzgeberischen Handlungsempfehlungen wie die Änderung des Vereins- und Steuerrechts, die Verschärfung des Wucherparagraphen, die staatliche Förderung privater Beratungsstellen und ein Gesetz zur Lebensbewältigungshilfe sind für uns nicht nachvollziehbar. Wir haben deshalb gegen die meisten Handlungsempfehlungen zur Schaffung neuer oder Änderung bestehender Gesetze gestimmt oder uns enthalten. Soziale Konflikte lassen sich nicht durch Gesetze vermeiden oder beilegen. Dies gilt in besonderem Maße für Konflikte im Bereich von Religion und Weltanschauung, wo der Staat zu strikter Neutralität verpflichtet ist. Es ist jedoch Aufgabe des Staates zu gewährleisten, daß die Konflikte im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung ausgetragen werden.

    Es ist ferner das Recht und die Pflicht des Staates, die Öffentlichkeit sachgerecht und neutral über Probleme zu informieren, die im Bereich neuer religiöser Bewegungen bestehen. Die Arbeit der Kommission hat gezeigt, daß dabei ein hohes Maß an Differenzierung notwendig ist. Auf diese Weise kann zur Verminderung bestehender Konflikte und Vorurteile beigetragen werden

    Unsere eigenen Handlungsempfehlungen betreffen Maßnahmen zur Konfliktreduzierung, zur Gründung einer Stiftung, zur Forschungsförderung, zur Organisation von Beratungsstellen, Empfehlungen zur Selbstkontrolle der Anbieter von Lebensbewätigungshilfe und zur Veröffentlichung der von der Enquete-Kommission in Auftrag gegebenen Gutachten".



    Die Kommission hat sich eingehend mit der Scientology Organisation befaßt. Dabei wurden zahlreiche Informationen vorgelegt, die darauf hindeuten, daß diese Organisation Ziele verfolgt und Praktiken anwendet, die politisch und moralisch abzulehnen sind. Darauf muß mit den Mitteln des Rechtsstaates angemessen reagiert werden. Die im Zusammenhang mit Scientology bestehenden Probleme müssen dazu konkret benannt werden. Nur so kann das Mißverständnis vermieden werden, es handele sich dabei um Probleme, die allgemein im Bereich neuer religiöser Bewegungen und sog. Psychogruppen bestehen. Wir sind deshalb in unserem abweichenden Votum auf Scientology gesondert eingegangen.

    I. Einleitung

    1. Gegenstand der Kommissionsarbeit.

    Der Beschluß zur Einsetzung der Enquête-Kommission bestimmt den Gegenstand der Untersuchung als "neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen, sogenannte Sekten und Psychogruppen". Die Kommission hat sich bei ihrer Arbeit mit einem breiten Spektrum von religiösen, weltanschaulichen, therapeutischen, wirtschaftlichen und sozialen Erscheinungen der Gegenwart befaßt. Im einzelnen lassen sich die behandelten Bereiche wie folgt bestimmten:

    (1) "neue religiöse Bewegungen", d.h. Religionen nichtchristlichen Ursprungs sowie christliche Gemeinschaften außerhalb der katholischen Kirche, der evangelischen Landeskirchen und des Arbeitskreises christlicher Kirchen;

    (2) der "Psychomarkt", worunter nicht schulmedizinisch oder in sonstiger Form wissenschaftlich begründete Therapiemethoden, Kurse zur Entwicklung persönlicher Fähigkeiten, Angebote der Lebensbewältigungshilfe, Meditations- und Yogakurse und ähnliches verstanden wurde;

    (3)"Psychogruppen", womit Gruppen gemeint zu sein scheinen, die sich um bestimmte Anbieter auf dem "Psychomarkt" bilden;

    (4) Okkultismus/Esoterik, d.h. der Glaube an Kräfte und Erscheinungen, die wissenschaftlicher Untersuchung nicht zugänglich sind, und damit verbundene Praktiken, soweit sie außerhalb religiöser Traditionen vorkommen.

    (5) "Strukturvertriebe" und andere Vertriebsformen des Direct-Marketings.

    Aufgrund des im Einsetzungsbeschluß gegebenen Auftrages hat sich die Kommission überwiegend mit solchen Aspekten des Gegenstandsbereiches befaßt, von denen angenommen wurde, daß sie als gefährlich für den einzelnen, die Gesellschaft oder den Staat gelten können oder mit Konflikten verbunden sind. Den übrigen Aspekten wurde vergleichsweise geringe Beachtung geschenkt.

    Bei der Arbeit der Kommission wurde deutlich, daß der Untersuchungsgegenstand so heterogen ist, daß sich verallgemeinernde Aussagen nicht treffen lassen. Der Schwerpunkt der Kommissionsarbeit lag jedoch auf neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen, die umgangssprachlich als "Sekten" bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang hat sich die Kommission vor allem mit der Scientology Organisation befaßt, die in der Öffentlichkeit in besonderem Maße umstritten ist. Die Kommission hat die Scientology Organisation allerdings nicht als neue religiöse Bewegung eingestuft.

    Soweit neue religiöse Bewegungen Gegenstand der Kommissionsarbeit waren, ist das Ergebnis, daß keine Informationen darüber vorliegen, die es rechtfertigen würden, neue religiöse Bewegungen allgemein als ein gesellschaftliches Problem oder gar eine Gefahr zu bezeichnen. Allerdings wurde auch deutlich, daß einige neue religiöse Bewegungen Anlaß zu zum Teil heftigen Konflikten geben. Wie bei allen Konflikten unterscheiden sich die Angaben der Beteiligten über Ursachen und Verlauf der Konflikte beträchtlich. Es ist deshalb notwendig, die Tatsachen sehr sorgfältig zu ermitteln, um nicht einseitig die Sichtweise einer der Konfliktparteien zu übernehmen.

    2. Informationsquellen.

    Die Kommission hat sich bei der Tatsachenermittlung auf eine Reihe unterschiedlicher Informationen gestützt. Die wichtigsten Informationsquellen sind im folgenden genannt.

    · Einerseits wurden ehemalige Mitglieder neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen, der Scientology Organisation und eines Strukturvertriebes angehört, die diesen Bewegungen und Organisationen überwiegend kritisch gegenüberstanden. Es lagen der Kommission ferner zahlreiche Schriften vor, die sich kritisch und warnend mit neuen religiösen Bewegungen und mit der Scientology Organisation befassen, sowie interne Dokumente dieser Organisation.

    · Andererseits wurden auch Vertreter einiger neuer religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften angehört, die naturgemäß ein anderes Bild zeichneten. Einige neue religiöse Bewegungen und einige Freikirchen gaben außerdem schriftliche Stellungnahmen ab.

    · Ebenfalls angehört wurden Vertreter staatlicher, kirchlicher und privater Beratungs- und Informationsstellen. Deren Einschätzung war uneinheitlich. Da bei der Beratung in erster Linie Fälle behandelt werden, in denen Probleme und Konflikte bestehen, standen diese Aspekte im Vordergrund. Einige der angehörten privaten Beratungsstellen waren selbst an juristischen Konflikten in diesem Bereich beteiligt.

    · Der Kommission standen ferner mündliche und schriftliche Stellungnahmen und Berichte staatlicher Stellen, insbesondere der Bundesregierung, der Landesregierungen und der Landeskriminalämter, sowie im staatlichen Auftrag erstellte Gutachten zur Verfügung. Hinzu kommen amtliche Berichte aus dem Ausland und des Europaparlaments sowie Gerichtsentscheidungen.

    · Die Kommission hat außerdem eigene wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag gegeben. Ferner wurden zu einigen Themen Wissenschaftler und andere Sachverständige angehört. Von den sachverständigen Kommissionsmitgliedern wurden darüber hinaus publizierte Forschungsergebnisse und eigene Forschungen in die Kommissionsarbeit eingebracht.

    Trotz der Vielzahl der Informationsquellen war es schwierig, gesicherte Tatsachen zu ermitteln. Sowohl die Darstellungen der Kritiker neuer religiöser Bewegungen als auch die Selbstdarstellungen dieser Bewegungen müssen ernst genommen werden. Sie sind jedoch naturgemäß subjektiv und in hohem Maße interessengeleitet. Es wurden der Kommission allerdings zahlreiche Dokumente zu den Aktivitäten der Scientology Organisation vorgelegt.

    Vor diesem Hintergrund kommt amtlichen Auskünften und wissenschaftlichen Untersuchungen ein besonderes Gewicht zu. Die von der Kommission in Auftrag gegebenen Gutachten und Forschungen bieten ein im Vergleich zu den übrigen Informationsquellen detaillierteres und zugleich methodisch kontrolliertes Bild neuer religiöser Bewegungen. Zugleich machen sie allerdings auch deutlich, daß noch erheblicher wissenschaftlicher Forschungsbedarf besteht, um bestehende Kenntnislücken zu schließen.

    II. Darstellung der Untersuchungsergebnisse

    1. Erkenntnisse zum Bereich neue religiöse Bewegungen

    Erkenntnissen der Kommission über neue religiöse Bewegungen kommt deshalb besonderes Gewicht zu, weil in der öffentlichen Diskussion in erster Linie diese Bewegungen und Gemeinschaften mit dem Begriff "Sekte" assoziiert werden. Auch im Beschluß zur Einsetzung der Enquête-Kommission werden "sogenannte Sekten" mit "neueren religiösen Bewegungen" gleichgesetzt. Die in Deutschland quantitativ bedeutendsten und in der Öffentlichkeit bekannteren neuen religiösen Bewegungen werden im folgenden Abschnitt genannt.

    a.. Quantitative Aspekte

    Bei der Einschätzung der quantitativen Dimension sog. Sekten und Psychogruppen ist es wichtig, zwischen den oben genannten Teilbereichen zu unterscheiden.

    Die Ergebnisse einer von der Enquête-Kommission in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage sind in dieser Hinsicht wenig aufschlußreich. Danach bezeichneten sich in Deutschland 0,5 % der Befragten als Mitglieder einer neuen religiösen oder weltanschaulichen Bewegung, 0,7 % bezeichneten sich als einer solchen Bewegung nahestehend. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung entspricht dies 340.000 bzw 497.000 Personen. Es ist jedoch unklar, was die Befragten unter "neue religiöse und weltanschauliche Bewegung" verstanden haben. In den wenigen Antworten, die die betreffende Bewegung spezifizieren, werden so unterschiedliche Gemeinschaften wie die Anthroposophische Gesellschaft, Baptisten, buddhistische Gemeinschaften, Scientology und Zeugen Jehovas genannt. Da der benutzte Fragebogen "neue religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften" durch Merkmale wie "Meditationen, spirituelles Training, Energiearbeit, Lebensberatungskurse usw." erläutert und nach Teilnahme an Veranstaltungen und Kursen gefragt hat,wurde auch der Bereich mit eingeschlossen, der als oben als "Psychomarkt" bezeichnet wurde. Die ermittelten Zahlen sind deshalb unbrauchbar, um die quantitatve Dimension der Mitgliedschaft in neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen zu bestimmen.

    Ein ungefähres Bild der Mitgliedsstärke neuer religiöser Bewegungen läßt sich aufgrund von Selbstauskünften gewinnen. Danach haben zwei bereits ältere Gemeinschaften mehr als 100.000 Mitglieder (Neuapostolische Kirche: 400.000; Zeugen Jehovas: 166.000). Mehr als 10.000 Mitglieder haben zwei Gemeinschaften (Mormonen: 36.000; Christengemeinschaft: ca. 10.000). Alle anderen Gemeinschaften haben weniger als 10.000 Mitglieder. Von den Gemeinschaften, die erst in den letzten Jahrzehnten in Deutschland aufgetreten sind, liegen Zahlen vor für: ISKCON: 5.000, davon 500 "Eingeweihte"; Vereinigungskirche: 850; Fiat Lux: 700. Für die Gemeinschaft Universelles Leben und die Osho-Bewegung wird die Zahl der Mitglieder bzw. Freunde auf jeweils etwa 6.000 geschätzt. Die Schätzungen für Gruppierungen wie Ananda Marga, Sahaja Yoga, Brahma Kumaris, Holosophische Gesellschaft bewegen sich jeweils zwischen 200 und 500 Mitgliedern.

    b.. Individuelle Aspekte: Konversion, Mitgliedschaft und "Ausstieg"

    In der internationalen wissenschaftlichen Literatur liegt eine Reihe von Forschungsergebnissen vor, die über die Bedingungen und Folgen der Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen Aufschluß geben. Um einen Überblick über den Forschungsstand zu erhalten, hat die Kommission ein Gutachten über "Soziale und psychische Auswirkungen der Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Integration unnd psychischen Gesundheit" in Auftrag gegeben. Die Studie berücksichtigt in erster Linie quantitative empirische Untersuchungen, die es gestatten, aus einer größeren Anzahl von Personen allgemeine Rückschlüsse zu ziehen. Im Unterschied dazu wurde bei einem ebenfalls von der Kommission in Auftrag gegebenen empirischen Forschungsprojekt "Aussteiger, Konvertierte und Überzeugte"ein qualitativer Ansatz gewählt, der die subjektiven Erfahrungen der Befragten und ihren biographischen Hintergrund zum Ausgangspunkt der Analyse macht. Ein weiteres Gutachten über "Beratungsbedarf und auslösende Konflikte im Fallbestand einer sog. Sektenberatung anhand von Fallkategorien und Verlaufsschemata" liefert empirische Informationen über Fälle, in denen die Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung zu Konflikten geführt hat, zu deren Bewältigung eine kirchliche Beratungsstelle aufgesucht wurde.

    Im Unterschied zum Zwischenbericht konnte die Kommission somit für den Endbericht auf eine empirische Basis zurückgreifen, die es erlaubt, ein fundiertes und differenziertes Bild der Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen zu gewinnen. Zwar muß eingeräumt werden, daß auch diese Forschungsergebnisse keineswegs den grundsätzlichen Mangel an empirischer Forschung im deutschsprachigen Raum beheben; jedoch ist damit eine Grundlage gegeben, die in ihren wesentlichen Elementen als wissenschaftlich gesichert angesehen werden kann.

    Obwohl die Arbeiten unterschiedliche methodische Ansätze und Fragestellungen verfolgen, sind ihre Ergebnisse in hohem Maße übereinstimmend. Im folgenden werden die Ergebnisse im thematischen Zusammenhang referiert. Dabei wird extensiv aus den Berichten zitiert, um ein möglichst authentisches Bild der Forschungsergebnisse zu vermitteln. Dies erscheint uns auch deshalb notwendig, weil bislang ungeklärt ist, ob und in welcher Form diese Forschungsergebnisse veröffentlicht werden.

    (1) Konversionen zu neuen religiösen Bewegungen ("Einstiegswege")

    In der Einleitung zu ihrer Untersuchung über Aussteiger, Konvertierte und Überzeugte beschreiben die Autoren eine verbreitete Interpretation des "Einstiegs" in eine neue religiöse Bewegung und die damit verbundenen Probleme:

    "In der Literatur zum Thema trifft man auf eine Vielzahl theoretischer Begriffe und Ansätze, die den Beitritt zu einer 'sogenannten Sekte und Psychogruppe' aus dem Blickwinkel der besonderen Techniken und Strukturen der Gruppierungen betrachten. Sie verstehen die werdenden Mitglieder 'destruktiver Kulte' [...] als 'Opfer' verschiedener Manipulationsmethoden verbunden mit betrügerischen Verschleierungsversuchen seitens der Gruppierung. Allen Theorien gemeinsam ist, daß sie das Schwergewicht der Erklärung auf die Beeinflussungstechniken und die totalitäre Struktur der Gruppe legen." [...] [Die vermuteten 'Psychotechniken'] "werden beschrieben als Methoden, die zum Teil schwerwiegende Folgen für die physische und psychische Gesundheit und die personale Identität der Betroffenen haben bzw. zu Abhängigkeit führen und eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen.

    Die oftmals unter dem Stichwort 'Brainwashing' ['Gehirnwäsche']-These zusammmengefaßten Ergebnisse dieser Arbeiten werden in der wissenschaftlichen Debatte sowohl methodisch als auch inhaltlich kritisiert und z.T. widerlegt. Die Übertragung des ursprünglich aus der Untersuchung von Kriegsgefangenen entwickelten Modells auf 'sogenannte Sekten und Psychogruppen' erscheint grundsätzlich fragwürdig. [...] Die beschriebenen Folgen lassen sich empirisch kaum nachweisen bzw. in eindeutig kausalen Zusammenhang mit der Mitgliedschaft deuten, die Untersuchungen weisen grundsätzliche methodische Mängel auf und die beschworenen Gefahren sind angesichts der absoluten Zahlen der Mitglieder, der Stagnation der Zuwächse und der hohen Austrittsraten wenig überzeugend."

    Die "Manipulationsthese" wurde auch in den Untersuchungen der Autoren nicht bestätigt. "Gewalttätige Vereinnahmungsversuche haben wir in keinem Fall festgestellt. Manipulative Vereinnahmungsversuche gingen nicht über das Maß hinaus, wie es in vergleichbaren Konfliktsituationen des sozialen Alltags üblich ist." Es gibt keinen einzigen empirischen Hinweis darauf, daß eine Person gegen ihren eigenen Willen gleichsam in eine neue religiöse Bewegung "hineinmanipuliert" wurde. Alle Untersuchungen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die Hinwendung zu einer neuen religiösen Bewegung als ein Prozeß gedeutet werden muß, an dem der potentielle Konvertit aktiv beteiligt ist und den er nicht als "Opfer" passiv erleidet. Ob es im Falle eines Erstkontaktes zu einer Konversion kommt, hängt entscheidend davon ab, in welchem Maße die Bedürfnisse des potentiellen Konvertiten mit dem spezifischen Angebot der jeweiligen Religionsgemeinschaft korrelieren:

    "Die Attraktivität des Kultangebotes ist direkt durch die Bedürfnisstruktur der suchenden Personen gekennzeichnet. Die Erwartungen der Klienten des BSW [Informations- und Beratungsdienst für Sekten und Weltanschauungsfragen im Bistum Aachen] reichen von 'Verbesserung der Lebensqualität' über 'Lösung persönlicher Probleme', 'Erwartung von Halt und Geborgenheit' bis zur 'Faszination von Eigenschaften des oder der Kultführer'."

    Die notwendige Entsprechung von individuellen Bedürfnissen und jeweiligem Angebot, wird von den Wissenschaftlern häufig als "Passung" bezeichnet:

    "Die beschriebene Bedürfnis-Kult-Passung entwickelt sich, wie die Beratungsgespräche zeigen, zu Beginn des Kontaktes zur Gruppe aufgrund der Wechselwirkung zwischen persönlichen Bedürfnissen einerseits und den Angeboten des Kultes andererseits." "Ohne Affinität zwischen Bedürfnissen des Einzelnen und Angeboten des Kultes ist, wie die Beratungen zeigen, eine Konversion wenig wahrscheinlich,"

    Da eine Passung zwischen den Bedürfnissen des einzelnen und dem spezifischen Angebot der jeweiligen Gemeinschaft in hohem Maße vom Zufall abhängig ist, ist es nicht überraschend, "daß von denjenigen Personen, die von einer NRB [neuen religiösen Bewegung] Kenntnis erhalten, mit ihr in Kontakt kommen oder sogar ein erstes Angebot einer Gruppe wahrnehmen, nur die allerwenigsten Personen tatsächlich Mitglied werden." Damit wird deutlich, daß die Rekrutierung zu einer neuen religiösen Bewegung kein passives Geschehen ist, dem der einzelne sich nicht entziehen kann. Vielmehr ist der Rekrut aktiv am Prozeß beteiligt, indem er die Annäherung entweder weiter betreibt oder sie abbricht.

    "Die Entscheidung zur Mitgliedschaft ist meistens ein allmählicher Prozeß: Die Konversion zu einer NRB [neuen religiösen Bewegung] ist keine Alles-oder-Nichts-Reaktion. Die Annäherung erfolgt allmählich, schrittweise und über einen längeren Zeitraum. Dies betonen übereinstimmend alle empirischen Untersuchungen."

    Keine der von der Kommission in Auftrag gegebenen Studien konnte die Vermutung bestätigen, daß der "Einstieg" in eine neue religiöse Bewegung durch die Anwendung bestimmter "Psychotechniken" induziert werde, die die Entscheidungsfreiheit oder Zurechnungsfähigkeit der Konvertiten ausschalten oder reduzieren.

    Gezielte Anwerbung von Mitgliedern durch neue religiöse Bewegung ist für den Beitritt quantitativ von untergeordneter Bedeutung, wie die Untersuchungen übereinstimmend feststellen:

    "Den wichtigsten Einfluß bei der Rekrutierung haben nicht Fremde auf der Straße, sondern Bekannte: Der Kontakt mit einer NRB erfolgt in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle durch 'significant others', d.h. Angehörige des eigenen sozialen Netzes wie Freunde, Familienmitglieder oder Nachbarn".

    "Auffallend ist, daß der Kontakt zur weltanschaulichen Gruppierung hauptsächlich in privaten Kontaktaufnahmen (44 %) in schulischen bzw. beruflichen Kontexten (38 %) zustande kam. Kontakte im familiären Bereich (8 %) und Anwerbung durch den Kult (10 %) werden deutlich seltener angegeben."

    (2) Mitgliedschaftsverläufe in neuen religiösen Bewegungen

    Die Studien kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß - ähnlich wie bei der Konversion - der Verlauf der Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung entscheidend bestimmt wird vom Grad der "Passung" zwischen den individuellen Bedürfnissen und den Angeboten der Gruppe. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich dieses Verhältnis im Laufe der Mitgliedschaft ändern kann. Sowohl die Bedürfnisse des einzelnen Mitglieds können sich als Folge von Entwicklungsprozessen verändern als auch die Struktur und das Angebot der Gruppe. Dadurch kann eine zunächst gegebene hohe Passung sich verringern oder wegfallen. Eine Mitgliedschaft, die ursprünglich als hilfreich und förderlich für die eigene Entwicklung erlebt wurde, wird dann einengend und entwicklungshemmend. Es können deshalb keine allgemeinen Aussagen über die Folgen einer Mitgliedschaft für den einzelnen gemacht werden, sondern es müssen verschiedene mögliche Konstellationen unterschieden werden.

    Ausgangspunkt und Voraussetzung für die Konversion sind zunächst ein Mindestmaß an Entsprechung zwischen den individuellen Problemlagen und Bedürfnissen des Individuums einerseits und dem wahrgenommenen Angebot der religiösen Gemeinschaft:

    "Eine Kultkarriere kann verstanden werden als der Versuch, aktualisierte oder latente innere bzw. äußere Konflikte abzubauen, zu kanalisieren oder zu vermeiden, da die prinzipiell dem Individuum zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten entweder nicht entwickelt oder blockiert sind. In diesem Prozeß des Bewältigungsversuches werden Gefühle der Angst, der Aggression oder der Spannung gemildert."

    Allerdings ist keineswegs sicher, daß die Bedürfnisse und Erwartungen, die der Konvertit mit der Mitgliedschaft verbunden hat, auch tatsächlich erfüllt werden.

    "Über die Frage, ob und wie die Zuwendung und die 'Karriere' problemverstärkend oder heilsam im Sinne einer Progression verläuft, entscheidet das Ausmaß der Passung zwischen dem Gruppenprofil und den Problemdispositionen der Individuen." "In welcher Weise individuelle Problemlagen und Lebensthemen bearbeitet werden, liegt weniger an der Verfaßtheit der Milieus und Gruppen als vielmehr am Passungsverhältnis zwischen Individuen und den Gruppen. Offensichtlich hängt es nicht zuletzt von den individuellen Ressourcen und Handlungsspielräumen ab, die ein Subjekt in die religiöse bzw. esoterische Karriere mitbringt, was mit ihm in diesen Milieus geschieht, und nicht allein vom Milieu oder der Gruppe."

    Es ist deshalb in hohem Maße vom Einzelfall abhängig, wie sich die Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung auswirkt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die einzelnen Menschen ihre jeweils eigene Lebensgeschichte mit einbringen und die Mitgliedschaft einer neuen religiösen Bewegung keinen Bruch, sondern eine Fortsetzung der eigenen Lebensgeschichte bedeutet:

    "Will man den Menschen im Umgang mit den jeweiligen Gruppierungen gerecht werden, so muß die gesamte Lebensgeschichte berücksichtigt werden. Der Bearbeitung des Lebensthemas im Kontext der Gruppe sind andere Bearbeitungskontexte vorausgegangen. Was in einer isolierten Betrachtung als Besonderes der jeweiligen Gruppenkultur wahrgenommen wird, kann sich in der Analyse der gesamten Lebensgeschichte als Wiederholung von Mustern herausstellen, mit denen das Lebensthema bereits in anderen Kontexten (Familie, Partnerschaft etc.) bearbeitet wurde." "Die je eigene Problematik eines Lebensthemas bedingt den unterschiedlichen Zugriff auf eine Gruppe, da von jedem Individuum je eigene Kontexte der Gruppe in einen Zusammenhang mit dem Lebensthema gestellt werden."

    Die Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung gestaltet sich in Abhängigkeit von der Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Mitgliedes somit unterschiedlich. Was von außen mitunter als homogenes Milieu gleichgerichteter "Sektenmitglieder" erscheint, erweist sich beim Blick auf die einzelnen Menschen als differenziert und individualisiert:

    "Die Probanden haben - unabhängig von der Offenheit bzw. Geschlossenheit des Milieus - ihre je eigenen Bezüge zur Gruppe und zur Außenwelt geschaffen und damit unterschiedliche Bedingungen hergestellt, wie sie ihr lebenspraktisches Problem bearbeiten."

    Die individuellen Unterschiede der Personen machen verständlich, daß auch die Mitgliedschaftsverläufe individuell verschieden sind. Die Frage, ob und wie lange eine Person Mitglied einer neuen religiösen Bewegung bleibt, ist in erster Linie von ihr selbst abhängig und weniger von der Struktur der Gruppe:

    "Zwischen Bleibern und Aussteigern zeigen sich in Bezug auf die Bearbeitung des Lebensthemas keine Unterschiede. Bleiber haben das lebenspraktische Problem, das sie mit der Gruppe in Verbindung bringt, entweder für sich befriedigend gelöst oder sie bearbeiten es noch im Kontext der Gruppe. Aussteiger dagegen konnten entweder das individuelle lebenspraktische Problem nicht lösen und haben die Gruppe deshalb gewechselt. [...] Oder die Gruppe wurde von Aussteigern als Moratorium benutzt, so daß das Lebensthema überhaupt bearbeitbar wurde. Nach einer für sie befriedigenden Lösung haben sie die Gruppe wieder verlassen und sind in die Alltagswelt zurückgekehrt."

    (3) Rückzug aus neuen religiösen Bewegungen ("Ausstieg")

    Die bisher referierten Ergebnisse haben schon deutlich gemacht, daß der "Ausstieg" aus einer neuen religiösen Bewegung keineswegs ungewöhnlich ist, sondern zu den Optionen gehört, nach denen sich der Verlauf der Mitgliedschaft gestaltet. Die verbreitete Auffassung, daß es nahezu unmöglich sei, eine neue religiöse Bewegung aus eigener Kraft wieder zu verlassen, läßt sich empirisch nicht bestätigen.

    "Die Mitgliedschaft in NRB ist in der Regel relativ kurz und kann unter Umständen als eine Durchgangsphase angesehen werden." "Der von praktisch nahezu allen Autoren berichtete hohe Durchlauf in NRB mit relativ geringen Zeiten der Mitgliedschaft spricht gegen die These, daß einmal gewonnene Mitglieder nicht mehr in der Lage sind, sich aus eigener Energie wieder zu lösen."

    Allerdings bedeutet der Ausstieg aus einer neuen religiösen Bewegung "oft eine intensive Krise, die mit einer umfassenden Labilisierung verbunden ist, da die eigene Identität in Frage gestellt sein kann und Gedanken, Gefühle und Beziehungen neu orientiert werden müssen." Dabei ist zu beachten, daß insbesondere in Fällen längerer Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung die sozialen Kontakte sich häufig auf Mitglieder der betreffenden Gruppe konzentrieren, in Extremfällen sogar beschränken. Die Gruppe zu verlassen bedeutet in diesen Fällen nicht nur eine Distanzierung von ihren religiösen und weltanschaulichen Inhalten, sondern vor allem auch die Aufgabe des bisherigen sozialen Bezugssystems. Es handelt sich also um einen tiefgreifenden biographischen Einschnitt, der sowohl von inneren als auch äußeren Unsicherheiten begleitet sein kann.

    "Stark konflikthafte Ablösungsprozesse von entsprechenden Gruppen gehen nach unseren Daten insbesondere darauf zurück, daß diejenigen, die sich ablösen wollen, innerlich noch zwiespältig der Gruppe verbunden sind."

    Der Rückzug aus einer religiösen Gemeinschaft, sofern er aus eigenem Entschluß erfolgt, setzt voraus, daß ein weiterer Verbleib in der Gruppe als belastend oder nachteilig erfahren wird. Die mit der Mitgliedschaft verbundenen Erwartungen oder Hoffnungen haben sich nicht erfüllt oder sind durch andere Aspekte überlagert worden. Der "Ausstieg" kann unter diesen Umständen die durch die mit der Mitgliedschaft verbundenen negativen Erfahrungen beenden, allerdings ist es möglich, daß zugleich auch wieder die Problemkonstellationen virulent werden, deren Lösung von der Mitgliedschaft (vergeblich) erwartet wurde:

    "Eine Kultkarriere kann verstanden werden als der Versuch, aktualisierte oder latente innere bzw. äußere Konflikte abzubauen oder zu vermeiden. Es geht zumeist darum, Gefühle von Ohnmacht, Angst, Aggression oder Spannung abzumildern bzw. zu kanalisieren. Aufgrund dieses 'psychischen Nutzens' der Kultzugehörigkeit ist Ablösung - selbst bei zweifelnden Mitgliedern - schwierig. Wenn die tieferen Gründe seiner Kultkarriere nicht angesprochen und bearbeitet werden, bleibt er ggf. trotz Lösung vom Kult weiterhin gefährdet."

    Nach den vorliegenden Untersuchungsergebnissen muß davon ausgegangen werden, daß die psychische Belastungen und Krisen, die mit dem Verlassen einer neuen religiösen Gemeinschaft verbunden sind, zum Teil erheblich sind. Dabei wirken verschiedene Faktoren, deren Bedeutung nur im jeweiligen Einzelfall bestimmt werden kann. Allerdings gilt hier wie auch in anderen Zusammenhängen, daß keine Verallgemeinerungen möglich sind. Krisenhaften Ausstiegsprozessen stehen andere gegenüber, die unproblematisch sind. So wird in der Studie zu randkirchlichen Gruppen zusammengefaßt:

    "Auffällig war die Beobachtung, daß es bei einzelnen Pbn [Probanden] in allen Pbn-Gruppen mehrfache Einstiegs- und Ausstiegsverläufe gab. D.h., diese Personen waren vor dem Hintergrund ihrer biographischen und persönlichkeitsbedingten Strukturen auf der Suche nach einer möglichst hohen Passung. In diesem Rahmen erscheint ein Ausstieg jeweils relativ undramatisch. Der oft kurzzeitige Verbleib (wenige Monate bis ca. zwei Jahre) und sogar die Ausstiegserfahrung werden in der Regel in die eigene Biographie konstruktiv integriert."

    Diese Beobachtung wird auch in anderen Untersuchungen bestätigt. Mehrfache Einstiegs- und Ausstiegsverläufe in bzw. aus unterschiedlichen religiösen oder "spirituellen" Gruppierungen sind keineswegs ungewöhnlich. Ein Autor bezeichnet diese Form religiöser Biographieverläufe als Typus des "akkumulativen Häretikers":

    "[I]m Fall des akkumulativen Häretikers wird 'Wahl' - auch vom Individuum selbst - als Auswahl verstanden, und außerdem meist als selektive Auswahl, die also bei weitem nicht alle Details einer Religionstradition übernehmen muß. [...] Der akkumulative Häretiker begibt sich von einem religiös-spirituellen Milieu ins nächste und kann dabei auch verschiedenste Initiationsrituale vollziehen."

    Auch vor dem Hintergrund der relativ hohen Durchlaufquote, die für die Mehrzahl derjenigen, die einer neuen religiösen Bewegung beigetreten sind, eine Verweildauer von weniger als zwei Jahren bedeutet,kann der "Ausstieg" als ein zwar für den Einzelnen unter Umständen sehr belastender, aber im Gesamtkontext relativ normaler Prozeß angesehen werden.

    Es lagen der Kommission keine Informationen darüber vor, die darauf hindeuteten, daß Personen, die eine neue religiöse Bewegung verlassen wollten, daran mit Gewalt oder anderen ungesetzlichen Methoden gehindert wurden.Es lagen auch keine Belege dafür vor, daß einzelne neue religiöse Bewegungen einen Austritt von Mitgliedern und Anhängern unmöglich zu machen suchen.

    c. Einzelne Themenbereiche

    (1) "Psychotechniken", Manipulation und Abhängigkeit, psychische Gesundheit

    Nach den Ergebnissen der von der Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Eintritt in die kleine Religionsgemeinschaft durch den manipulativen Einsatz von Techniken der sozialen Kontrolle und psychischen Destabilisierung verursacht wird. Diese Ergebnisse erlauben zwar keine generalisierbaren Aussagen über alle religiösen Randgruppen, sie zeigen jedoch, daß es verfehlt wäre, den Einsatz manipulativer "Psychotechniken" als wesentlichen Faktor für die Akkulturation und den Verbleib in marginalen Religionsgemeinschaften anzusehen. Dies bedeutet, daß in der Öffentlichkeit verbreitete Befürchtungen, wonach die als "Sekten" bezeichneten neuen religiösen Bewegungen Menschen gegen ihren Willen in Abhängigkeit bringen und halten, nicht bestätigt werden können. Damit ist eine gewisse Entdramatisierung des Komplexes "Psychotechniken" und "mentale Destabilisation" gegeben.

    Dies vorausgeschickt, muß jedoch auch festgestellt werden, daß die Mitgliedschaft in strikten Religionsgemeinschaften mit hohen Ansprüchen an die individuelle Lebensführung für die betreffenden Personen Bindungen schafft, die je nach Standpunkt auch als Abhängigkeit interpretiert werden können. Je enger der Zusammenhalt der Gruppe und je stärker die Abgrenzung nach außen, desto intensiver gestaltet sich die Bindung an die jeweilige Gemeinschaft. Dies gilt nicht nur für religiöse Gemeinschaften und Gruppen. Die Mitgliedschaft bedeutet eine Anerkennung der gruppeninternen Regeln, deren Einhaltung durch Mechanismen der gruppeninternen sozialen Kontrolle unterstützt wird. Aus der Außenperspektive können die Einpassung in gruppeninterne Hierarchien und die Befolgung spezifischer Regeln der Lebensführung zumal dann als Abhängigkeit interpretiert werden, wenn die gruppenspezifischen Wertvorstellungen deutlich von denen des Betrachters abweichen und auf Ablehnung stoßen. Von den Betroffenen dagegen werden diese Bindungen in der Regel nicht als unerwünschte Einschränkung der persönlichen Freiheit wahrgenommen.

    Wie weit soziale Bindungen als Abhängigkeit gedeutet werden, hängt also nicht zuletzt von der Bewertung der sozialen Gruppe ab, zu der diese Bindungen bestehen. Analog dazu werden auch die Prozesse der Persönlichkeitsveränderung, die mit dem Eintritt in eine neue religiöse Gemeinschaft verbunden sein können, sehr unterschiedlich interpretiert. Was aus der Außensicht als Aufgabe von Autonomie oder Verlust eines adäquaten Wirklichkeitsverständnisses ("Realitätsverlust") erscheinen kann, kann aus der Innensicht als spirituelle Selbstfindung und Gewinn tieferer Erkenntnisse gesehen werden. Schließlich können auch bestimmte Formen strikter Lebensführung, die in manchen religiösen Gemeinschaften befolgt werden (z.B. extensive Meditation, Gebete, Gottesdienste, Fasten, Unterweisungen, streng geregelter Tagesablauf), je nach Standpunkt als Mittel zur Förderung der religiösen und spirituellen Entwicklung oder als Techniken zur psychischen Destabilisierung interpretiert werden.

    Isoliert betrachtet stellen weder die intensive Bindung an eine religiöse Gemeinschaft noch die damit verbundenen Prozesse der Persönlichkeitsprägung und die Befolgung gruppenspezifischer Lebensformen ein gesellschaftliches Problem dar, solange diese Bindungen freiwillig eingegangen werden und auch wieder gelöst werden können. Diese Voraussetzung ist nach den vorliegenden Erkenntnissen in der Regel gegeben.

    Allerdings darf nicht übersehen werden, daß die mit einer engen Gruppenbindung gegebenen Möglichkeiten der sozialen Kontrolle und Beeinflussung grundsätzlich auch mißbraucht werden können.

    "In allen sozialen Strukturen, die durch Abhängigkeitsverhältnisse und intensive emotionale Beziehungen gekennzeichnet sind, ist die Möglichkeit von absichtlichem Mißbrauch einerseits und/oder einer möglichen negativen Verarbeitung andererseits gegeben. So liegen entsprechende Erfahrungsberichte zu vielen Institutionen vor, z.B. zu den großen christlichen Kirchen, dem Schulwesen, der Psychiatrie, der Psychotherapie, dem Militär, der Ehe oder abhängigen Arbeitsverhältnissen.

    Im Falle religiöser Gemeinschaften ist zu berücksichtigen, daß die Anerkennung religiöser Autoritäten mit der Bereitschaft zu Gehorsam und Unterordnung verbunden sein kann. In neuen und kleinen religiösen Gruppierungen mit weitgehend informellen Strukturen, in denen eine institutionalisierte Kontrolle religiöser Autorität fehlt, ist die Gefahr des Machtmißbrauchs erheblich größer als in Organisationen, die in staatliche oder großkirchliche Strukturen eingebunden sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betreffenden Gruppen nach außen abgeschlossen und damit externer sozialer Kontrolle entzogen sind.

    In welchem Ausmaß Mißbräuche vorkommen, läßt sich nicht bestimmen. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Mißbräuche in neuen religiösen Bewegungen häufiger wären als in vergleichbaren sozialen Strukturen. "Aufgrund der Ergebnisse aus den biographischen Interviews ist es insgesamt nicht einleuchtend, von 'Sekten' zu reden. Man kann auch nicht prinzipiell von einer 'radikalen' oder 'gefährlichen' Gruppe sprechen." Die Mechanismen und Prozesse der sozialen und emotionalen Beeinflussung, Kontrolle und Bindung liegen im Rahmen dessen, was auch in anderen engen Gruppenbeziehungen zu beobachten ist. Von den Beteiligten werden diese Prozesse in der Regel nicht oder erst nach einer erfolgten Distanzierung von der Gruppe als Manipulation oder Abhängigkeit interpretiert. Aber es muß zugleich auch festgestellt werden, daß die Gefahr des Mißbrauchs der Möglichkeit, Menschen zu beeinflussen, in nach außen abgeschlossenen Gruppen deutlich größer ist als in Gruppen, die ein höheres Maß an Transparenz aufweisen und damit einer externen sozialen Kontrolle unterliegen.

    Der Kommission lagen keine empirischen Befunde vor, die die Annahme einer besonderen Form "psychischer Abhängigkeit" in neuen religiösen Bewegungen begründen würde. Es gibt keine Hinweise auf das Vorliegen von "religiöser Abhängigkeit". Insbesondere lagen keine empirischen Belege vor, die es rechtfertigen würden, bei den Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen Symptome wie "Willenlosigkeit", "Realitätsverlust" oder "Aufhebung der für alle geltenden moralischen Grundsätze" zu konstatieren.

    Die Untersuchung zum Beratungsbedarf und den auslösenden Konflikten bei der "Sektenberatung" kommt zu dem Ergebnis, daß die psychischen Konflikte von um Beratung nachsuchenden Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen auf anderen Ebenen liegen:

    "Wie die Grafik verdeutlicht, sind es überwiegend Identitätsprobleme und familiäre Probleme, (je 23 Nennungen), die unsere Klienten in die Beratungsstelle führen. In diesem beiden Feldern werden auch am häufigsten erhebliche Probleme als auslösende Faktoren benannt (11 bzw. 9 Nennungen). Nimmt man die Fragen aus dem Bereich Partnerschaft (12/3) und aus dem privaten Umfeld (10/1) hinzu, so zeigt sich, daß es im wesentlichen Beziehungsfragen sind, die für den Klienten eine Hilfe von außen erforderlich machen. Probleme aus dem beruflichen Umfeld der Klienten spielen demgegenüber mit 13 (10/3) Nennungen nur eine vergleichweise geringe Rolle."

    Es gibt keine Hinweise darauf, daß die psychischen Probleme, die bei einigen Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen konstatiert wurden, durch die Mitgliedschaft ausgelöst wurden, wenngleich dies im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden kann. Häufiger scheinen jedoch Fälle zu sein, in denen die Mitgliedschaft als Katalysator oder Fokus für unabhängig von der Mitgliedschaft bestehende Probleme wirkt:

    "Im Verlauf des Beratungsprozesses veränderte sich für die Klienten in signifikanter Weise ihre Perspektive zu den angegebenen Problemen und ihre Fähigkeit zu konstruktivem Umgang mit denselben. [...] In allen Beratungsprozessen zeigte sich, daß der Kultkontext im Vordergrund stand, bis die Klienten in der Lage waren, sich ihren eigenen Problemen und deren Lösung zuzuwenden. Ab diesem Zeitpunkt trat die Kultproblematik völlig zurück.

    Es muß hier berücksichtigt werden, daß die empirische Basis der zitierten Studie nicht breit genug ist, um die Ergebnisse zu verallgemeinern. Zwar kommt auch die Auswertung quantitativer Untersuchungen zu dem Ergebnis: "Eine generelle Schädlichkeit durch die Mitgliedschaft in einer NRB [neuen religiösen Bewegungen] läßt sich nicht nachweisen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, daß wissenschaftliche Längsschnittstudien fehlen, die Aufschluß darüber geben, ob bestimmte Persönlichkeitsauffälligkeiten bei Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen der Mitgliedschaft vorausgehen, oder sogar für sie prädisponieren, oder ob sie als Folge der Mitgliedschaft gesehen werden müssen.

    "Es gibt Hinweise auf einen gehäuften Anteil von Personen mit einer prämorbiden Persönlichkeit. D.h. mehrere Studien finden bei Mitgliedern in NRB eine Vorgeschichte mit traumatischer Kindheit und neurotischer Entwicklung. Diese Personen scheinen sich durch die Mitgliedschaft in einer NRB oft psychisch und sozial zu stabilisieren."

    Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß sich keine allgemeinen Aussagen über die psychischen Folgen einer Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung machen lassen. Während einerseits negative Folgen wie die Verstärkung bestehender psychischer Probleme nicht ausgeschlossen werden können, kann andererseits auch auf positive Effekte verwiesen werden. Nahezu alle der von Murken ausgewerteten psychometrischen Studien an einer größeren Stichprobe aktiver Mitglieder einer neuen religiösen Bewegung bestätigen die Hypothese, daß die Mitgliedschaft zu einer Verbesserung des psychosozialen Befindens beitragen kann. In verschiedenen Untersuchungen werden u.a. genannt: Beendigung illegitimer Drogeneinnahme, Reduktion von Angst und Depression, Stabilisierung des Lebenssinns. Zwar können aus diesen quantitativen Untersuchungen keine Prognosen für einzelne Mitglieder abgeleitet werden. Sie lassen jedoch "die Vermutung zu, daß die klare, oft rigide Struktur NRB [neuer religiöser Bewegungen] in Zeiten von Krisen, mangelnder Ich-Identität und sozialer Isolierung einen wichtigen Beitrag zu Überwindung dieser Schwierigkeiten leisten können. Möglicherweise wird das Angebot NRB jedoch mit zunehmender Entwicklung von Ich-Identität, sozialer Sicherheit und Wunsch nach Individualisierung zunehmend einschränkend und hinderlich. Was ursprünglich hilfreich und strukturierend war wird dann einengend und entwicklungshemmend erlebt.

    Die Forschungsergebnisse zeigen somit, daß eine höchst differenzierte Betrachtung notwendig ist, wenn es um die psychischen und persönlichkeitsprägenden Einflüsse neuer religiöser Bewegungen geht. Merkmale "psychischer Abhängigkeit", wie "starke Fremdbestimmung alltäglicher Lebensvollzüge", "stereotype Reaktionen in der Kommunikation mit Außenstehenden bezüglich der Gemeinschaft der man angehört" oder "ungewöhnliche Konformität" erweisen sich als einseitige und irreführende Charakterisierungen:

    "[D]em allgemeinen Vorurteil entgegenlaufend haben wir eine ganz[e] Reihe von Fällen in unserem Sample, bei denen im Kontext der fundamentalistischen Milieus und Gruppen eine transformierende Bearbeitung stattgefunden hat, die etwa zu größerem Selbstbewußtsein, verstärkter Selbstbehauptung und differenzierten Zugangs- und Umgangsweisen - auch mit Religion und religiösen Vorstellungen - geführt hat."

    (2) Kinder in neuen religiösen Bewegungen

    Bei Personen, die sich einer neuen religiösen Bewegung zuwenden, handelt es sich in der Regel um Erwachsene, wobei die Altersstruktur je nach Gruppe zu variieren scheint. Die früher gebräuchliche Bezeichnung "Jugendreligionen" ist insofern irreführend. Allerdings scheint in vielen Gemeinschaften die Gruppe derjenigen, die zum Zeitpunkt des Eintritts zwischen achtzehn und fünfundreißig Jahre alt sind, deutlich überrepräsentiert zu sein.

    Bei der Beurteilung der Folgen einer Mitgliedschaft sind deshalb Kinder, die bereits durch ihre Eltern in eine neue religiöse Bewegung sozialisiert werden, von den Mitgliedern zu unterscheiden, die aufgrund eigener Entscheidung Mitglied wurden.

    In den Fällen, in denen eine Person bereits als Kind in eine neue religiöse Bewegung sozialisiert wird, kann jedoch durch eine rigide religiöse Erziehung die Bewältigung bestimmter Entwicklungsaufgaben erschwert werden (z.B. Ablösung von Elternhaus, Entwicklung der psychosexuellen Identität oder berufliche Orientierung).

    Die Kommission hat sich mit dem Komplex "Kinder in neuen religiösen Bewegungen und Psychogruppen" eingehend befaßt und die Ergebisse in Abschnitt 5.2. des Berichtes der Kommissionsmehrheit dargelegt. Wir schließen uns diesem Teil des Berichtes an.

    (3) Konflikte in und mit neuen religiösen Bewegungen

    Die verfügbaren empirischen Daten haben gezeigt, daß verallgemeinernde Aussagen über neue religiöse Bewegungen nur sehr beschränkt möglich sind. Die von der Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen widersprechen in vieler Hinsicht dem in der Öffentlichkeit bestehenden Bild neuer religiöser Bewegungen. Insbesondere werden Befürchtungen nicht bestätigt, die Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung werde in der Regel durch die Anwendung von "Psychotechniken" gegen den Widerstand der Beteiligten herbeigeführt und wirke sich negativ auf die psychische Gesundheit der Mitglieder aus. Es wurde deutlich, daß die Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung als Teil einer jeweils individuellen Biographie gesehen werden muß und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gruppe je nach Konstellation unterschiedliche Konsequenzen haben kann - positive wie negative.

    "Es gibt keinen vernünftigen Zweifel daran, daß die Mitgliedschaft in NRB [neuen religiösen Bewegungen] für einzelne Mitglieder zur traumatischen Erfahrung mit äußerst ungünstigen Folgen für ihre psychische Organisation und ihr soziales Leben werden kann.

    Die Frage, die sich jedoch stellt, ist, ob diese negativen Erfahrungen als Ausdruck einer generellen 'Destruktivität' der betreffenden Gruppe verstanden werden müssen, oder ob die jeweilige Person-Umwelt-Interaktion die Erfahrungen der betreffenden Personen verständlich machen."

    Konflikte im Zusammenhang mit neuen religiösen Bewegungen waren ein zentrales Thema der Kommissionsarbeit. Dabei wurde die Bedeutung interaktiver Prozesse einerseits und gruppenspezifischer Merkmale andererseits unterschiedlich bewertet. Es ist offensichtlich, daß eine sachgerechte Analyse von Konflikten und Konfliktpotentialen nur möglich ist, wenn alle Konfliktbeteiligten und ihre Beziehung zueinander in Betracht gezogen werden. Erst vor diesem Hintergrund ließe sich die relative Bedeutung einzelner Faktoren beurteilen. Der Interpretationsansatz, Konfliktpotentiale einseitig in bestimmte Merkmalen neuer religiöser Bewegungen zu sehen, erscheint uns methodisch fragwürdig.

    (a) Konflikte zwischen Mitgliedern und der Gruppe

    Soweit zu dieser Frage Forschungsergebnisse vorliegen, bestätigen sie die Bedeutung interaktiver Beziehungen für die Konfliktanalyse:

    "Die Begegnung mit den als radikal, bzw. randchristlich eingestuften Gruppen [...] machte deutlich, daß zwar einzelne konfliktträchtige Merkmale erkennbar waren, diese aber in aller Regel auch bei anderen weltanschaulichen Gemeinschaften oder rigiden sozialen Milieus (z.B. autoritären Vereinstruksturen oder das Individuum einschränkenden Abhängigkeitsstrukturen durch strenge Hierarchien) zu finden wären. Dies bedeutet nicht, daß es insbesondere für die einzelnen Aussteiger nicht erhebliche Konfliktlagen im Rahmen ihres Dekonversionsprozesses gegeben hätte. Allerdings offenbarten diese Prozesse Handlungsbestände und Strukturen im Individuum, die - von einzelnen Aussteigern sogar selbst so interpretiert - als mitverursachend und dominant zu werten sind."

    Dieselbe Untersuchung legt es in der Zusammenfassung nahe, in religiösen Gemeinschaften auftretende Konflikte in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext zu sehen:

    "Soweit dies mit den in dieser Untersuchung angewandten Methoden und bei den tangierten randkirchlichen Gemeinschaften sichtbar werden konnte, sind die beobachtbaren gruppeninternen Konflikte im Rahmen von Ausstiegsprozessen und die manipulativen Gruppendynamiken z.B. beim Erstkontakt oder dem Akkulturationsprozeß prinzipiell keine anderen als in vielen alltäglichen sozialen Situationen. Beziehungskonflikte gibt es auch in Familien und in der Abhängigkeit von rigiden Arbeitgebern. Komplizierte und traumatische Trennungsprozesse von Ehepaaren scheinen ähnliche Spuren zu hinterlassen wie belastende Ausstiege aus randkirchlichen Gruppen. Ebenso ist anzunehmen, daß säkulare soziale Milieus mit einer eindeutigen Befehl-Gehorsam-Struktur oder Situationen mit starken finanziellen oder anderweitigen Abhängigkeitsverhältnissen ein ähnliches psychisches Erleben provozieren."

    Auch hier wird man die Ergebnisse nicht ohne weiteres verallgemeinern können. In Anbetracht der Tatsache, daß darüber hinausgehende oder anderslautende Forschungsergebnisse der Kommission nicht vorlagen, können diese Befunde allerdings auch nicht übergangen werden. Jedoch müssen neben den Forschungsergebnissen auch andere Informationsquellen berücksichtigt werden. Dazu gehören insbesondere Berichte von ehemaligen Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen, die zum Teil in Büchern und in den Medien veröffentlicht wurden. Die Kommission hat auch einige "Aussteiger" angehört. Diese Berichte geben naturgemäß die subjektive Wahrnehmung und Interpretation der Konflikte durch einzelne Betroffene wieder und lassen sich deshalb noch weniger verallgemeinern als die methodisch kontrollierten wissenschaftlichen Untersuchungen. Auf diese Problematik wird in einem der Forschungsberichte hingewiesen:

    "Eine Art eigene Gattung stellen sogenannte Erfahrungsberichte ehemaliger Mitglieder dar [...]. Diese geben wichtige Hinweise auf mögliche Gefahren und Belastungen oder auch Strukturen und Prozesse innerhalb der Gruppen, aber sie vernachlässigen oftmals die immer auch vorhandenen positiven lebensgeschichtlichen Bedeutungen im Zusammenhang mit der geschilderten Erfahrung, wenn sie zum Instrument der Bewältigung und Legitimation des eigenen Lebensverlaufs in Form einer Anklageschrift werden."

    Zur Klärung der Konfliktstrukturen und -verläufe stellen diese Berichte ohne Zweifel eine wichtige Quelle dar. Allerdings wird man sie mit den Wahrnehmungen und Interpretationen der anderen Seite kontrastieren müssen, d.h. den jeweiligen religiösen Gemeinschaften und Gruppen. Diese schwierige Aufgabe konnte von der Kommission nicht in Angriff genommen werden. Insofern besteht in diesem Punkt noch erheblicher Klärungsbedarf.

    (b) Konflikte mit Familienmitgliedern

    In der Öffentlichkeit wird nicht selten der Vorwurf erhoben, durch die Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung würden Familien zerstört, insbesondere Kinder von ihren Eltern entfremdet. Die Kommission konnte dieser Frage nicht im Detail nachgehen. Es wurde jedoch eine Mutter angehört, die ihre Erfahrungen berichtete.

    Ohne Zweifel ist es für viele Eltern belastend, wenn ihre erwachsenen Kinder sich einer neuen religiösen Bewegung zuwenden, für die sie wenig Verständnis haben und die unter Umständen in der Öffentlichkeit als "Sekte" bezeichnet wird. Die Belastung wird verstärkt, wenn damit ein Konflikt zwischen Eltern und ihren Kindern verbunden ist, der u.U. zu einer Distanzierung oder gar zum Abbruch der Beziehungen führt. Wie bei allen familiären Konflikten, deren Dynamik oft über Jahrzehnte entstanden ist, ist es schwierig, die zugrundeliegenden Ursachen und Strukturen zu bestimmen. Wechselseitige Schuldzuweisungen sind die Regel. Es lassen sich allenfalls im konkreten Fall die Konfliktverläufe untersuchen, Verallgemeinerungen sind unmöglich.

    Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über die Biographieverläufe von Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen wird man in Rechnung stellen müssen, daß in vielen Fällen familiäre Spannungen und psychische Belastungen bereits vor der Konversion vorliegen und oft bis in die Kindheit zurückreichen. Gestörte Beziehungen sind sowohl für die Eltern als auch für die Kinder belastend. Soweit sich dies aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse sagen läßt, wird man die Ursachen dafür jedoch häufiger in der jeweiligen familiären Konstellation als in spezifischen Strukturen neuer religiöser Bewegungen suchen müssen. Mit Bezug auf neue religiöse Bewegungen östlicher Prägung wird dazu in einem Bericht vermerkt:

    "Enttäuschung von Seiten betroffener Eltern über gestörte Beziehungen zu ihren Kindern wandeln sich oft in Aggressionen, die sich auf die Gruppen richten, in denen sich die erwachsenen Kinder engagieren. Bestenfalls können über entsprechende medienwirksame Aktionen von Seiten der organisierten Eltern die Gruppen in legitimatorische Schwierigkeiten gebracht werden. Die Bearbeitung der Beziehungsprobleme steht aber weiterhin aus und wird nach jeder öffentlichen Aktion umso dringender."

    Es ist auch hier zu beachten, daß gestörte Beziehungen zwischen Familienangehörigen, die sich im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung artikulieren, gestörte Beziehungen sind, für die in der Regel nicht einseitig eine der Parteien verantwortlich gemacht werden kann. So verfehlt es wäre, die Ursachen dafür nur in der Mitgliedschaft zu suchen, so irreführend wäre es andererseits, allein im Verhalten der Eltern das auslösende Problem zu sehen.

    (c) Konflikte mit Kirchen

    Die öffentliche Wahrnehmung neuer religiöser Bewegungen wurde vor allem in den siebziger und achtziger Jahren in hohem Maße durch kirchliche Sektenbeauftragte geprägt. Auch heute noch sind kirchliche Sektenbeauftragte wichtige Akteure in der öffentlichen Diskussion. Die oft - keineswegs immer - sehr kritische Haltung der Kirchen zu neuen religiösen Bewegungen hat mitunter zum Teil heftige Konflikte ausgelöst. Einige dieser Konflikte wurden und werden mit rechtlichen Mitteln ausgetragen.

    Auch hier wird man berücksichtigen müssen, daß Konflikte als Interaktion zwischen den Beteiligten verstanden werden müssen. Einseitige Interpretationen, die etwa die kritische Haltung der Kirchen allein als Ausdruck einer religiösen und weltanschaulichen Konkurrenz interpretieren, dürften der Sachlage nicht gerecht werden. Es fehlt allerdings völlig an gesicherten und verwertbaren Erkenntnissen über die Verläufe und Strukturen dieser Konflikte. Die Kommission hat sich damit auch nicht befaßt.

    (d) Gesetzesverstöße

    Der Kommission lagen keine Hinweise darauf vor, daß Gesetzesverstöße durch neue religiöse Bewegungen oder ihre Mitglieder häufiger vorkommen als in anderen sozialen Kontexten. Soweit sich einzelne neue religiöse Bewegungen wirtschaftlich betätigen, wurde auf Verstöße gegen das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht verwiesen, ohne daß dies dokumentiert wurde. Sie scheinen sich im Rahmen dessen zu bewegen, was auch in anderen Wirtschaftsbereichen zu verzeichnen ist.Genauere Informationen lagen nicht vor. Konflikte mit dem Strafrecht wurden nur in einem Fall bekannt. Es handelt sich dabei um einen Fall von Kindesmißhandlung durch einen Vater, der ein Kleinkind zu stundenlanger Meditation zwang. Belege für vermutetes "kriminogenes Verhalten" einzelner neuer religiöser Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland lagen der Kommission nicht vor.

    (4) Wirtschaftliche Aktivitäten

    Es liegen keine genaueren Informationen über die wirtschaftlichen Aktivitäten neuer religiöser Bewegungen oder ihrer Mitglieder vor. Die meisten Mitglieder neuer religiöser Bewegungen dürften berufstätig, in der Ausbildung, als Hausfrauen tätig, selbständig oder freiberuflich tätig sein. Einige sind sicher erwerbslos. Einige wenige neue religiöse Bewegungen unterhalten eigene kleinere oder mittelständische Wirtschftsbetriebe, in denen vorwiegend Mitglieder beschäftigt sein dürften. Die Zahl der hauptberuflichen Mitarbeiter, die sich ganztägig der Arbeit in den neuen religiösen Bewegungen widmet, scheint allgemein gering zu sein, wobei deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Gemeinschaften bestehen. Allerdings liegen auch hierzu keine genaueren Informationen vor.

    Bei den wirtschaftlichen Betätigungen neuer religiöser Gemeinschaften handelt es sich in der Bundesrepublik Deutschland um ein mit ökonomischen Kategorien nicht greifbares Randphänomen. Die Erhebungen der Enquête-Kommission haben keine empirische Bestätigung für die These geliefert, die bundesdeutsche Wirtschaft werde durch religiöse Minderheiten ("Sekten") "unterwandert". Sofern Vorwürfe dieser Art in der Öffentlichkeit konkretisiert werden, scheinen sie sich ausschließlich auf die Scientology Organisation zu beziehen, die von der Kommission nicht als neue religiöse Bewegung eingestuft wurde. Darauf wird unten näher eingegangen.

    Die Enquête-Kommission hat mehrere Wirtschaftsverbände nach den ökonomischen Aktivitäten religiöser Minderheiten befragt. Die befragten Verbänden sind nicht in der Lage, konkrete Angaben zur wirtschaftlichen Bedeutung religiöser Minderheiten in ihren Bereichen zu machen. Die Antworten bleiben insgesamt sehr vage. Es werden keine empirisch überprüfbaren Fakten zum Einfluß religiöser Minderheiten in der Wirtschaft genannt. Eine gewisse Sensibilisierung für dieses Thema scheint es aber durch Berichte in den Massenmedien zu geben.

    Die in Veröffentlichungen von "Sektenkritikern" erwähnten Anhaltspunkte und Schätzungen von Marktanteilen, Umsatz- und Beschäftigungszahlen sowie der Branchenkonzentration deuten darauf hin, daß Unternehmen, die mit neuen religiösen Bewegungen verbunden sind, eine randständige Erscheinung sind. Was als "Wirtschaftsimperium" apostrophiert wird, entspricht nach den üblichen ökonomischen Kategorien einem mittelständischen Betrieb. Wenn die wirtschaftlichen Betätigungen religiöser Minderheiten mit denen der Großkirchen verglichen werden, müssen sie ebenfalls als unbedeutend angesehen werden.

    Soweit wirtschaftliche Aktivitäten gewerbsmäßig betrieben werden, unterliegen sie den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen. Es gibt keine Informationen darüber, daß dabei grundsätzlich andere Probleme bestünden als in anderen Wirtschaftsbetrieben. Einige neue religiöse Bewegungen haben allerdings in Stellungnahmen an die Kommission erklärt, daß ihre Mitglieder zuweilen berufliche oder geschäftliche Nachteile haben, wenn bekannt wird, daß sie einer als "Sekte" bezeichneten neuen religiösen Bewegung angehören.

    Es wurde in der Kommission darauf hingewiesen, daß die Entlohnung von Mitgliedern, die für neue religiöse Bewegungen tätig sind, häufig unter dem Tariflohn liege. Dabei ist freilich zu beachten, daß es in religiösen Gemeinschaften, einschließlich der großen Kirchen, nicht ungewöhnlich ist, Arbeitskraft und Zeit für die Gemeinschaft einzusetzen, ohne dafür nach den Maßstäben der normalen Arbeitsgesellschaft angemessen finanziell entlohnt zu werden. Auch ehrenamtliche Tätigkeit ist in Religionsgemeinschaften allgemein verbreitet. Gleichwohl können persönliche und gesellschaftliche Probleme auftreten, wenn ein Mitglied eine religiöse Gemeinschaft verlassen will und während seiner Tätigkeit nicht oder nicht hinreichend sozialversichert war. Informationen darüber, in welchem Ausmaß dieses Problem auftritt, lagen der Kommission nicht vor.

    Nach Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung sind die ehemaligen Mitglieder geistlicher Genossenschaften oder ähnlicher Gemeinschaften für die versicherungsfreie Zeit in der gesetzlichen Rentenversicherung nachzuversichern. In der Arbeitslosenversicherung ist für diese ehemaligen Mitglieder keine Nachversicherung vorgesehen. Vergleichende Untersuchungen zur arbeits- und sozialrechtlichen Lage von Beschäftigten im Amtskirchen und bei religiösen Minderheiten liegen dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung nicht vor.

    d. Analyse nach den Vorgaben des Einsetzungsbeschlusses

    Der Deutsche Bundestag hat die Kommission beauftragt, auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse zu einer Reihe von Fragen Stellung zu nehmen. Im folgenden werden diese Fragen behandelt, soweit es sich um den Bereich"neuere religiöse Bewegungen" handelt, die im Einsetzungsbeschluß mit "sogenannte Sekten" gleichgesetzt werden. Die im Einsetzungsbeschluß als "neuere weltanschauliche Bewegungen" erläuterten "Psychogruppen" werden in einem anderen Abschnitt behandelt.

    (1) Analyse von Zielen, Aktivitäten und Praktiken der in der Bundesrepublik Deutschland agierenden neuen religiösen Bewegungen

    Auch ohne daß die Kommission sich damit näher befaßt hat, kann und muß zunächst festgestellt werden, daß die dominierenden Ziele, Aktivitäten und Praktiken neuer religiöser Bewegungen in Deutschland religiöser Art sind. Im einzelnen bestehen allerdings beträchtliche Unterschiede, weil die verschiedenen neuen religiösen Gemeinschaften sich an unterschiedlichen Traditionen orientieren. Die Mehrzahl der auf über 600 geschätzten Gruppen dürfte dem Christentum zuzurechnen sein, es bestehen jedoch auch Gemeinschaften, die sich an buddhistischen, hinduistischen, muslimischen, ostasiatischen, naturreligiösen oder antiken Traditionen orientieren, sowie synkretistische Neubildungen.

    Wie in allen religiösen Gemeinschaften umfassen die Aktivitäten und Praktiken auch neuer religiöser Gemeinschaften in der Regel gemeinsame Kultveranstaltungen, also religiöse Aktivitäten im engeren Sinne, sowie eine Vielzahl anderer Aktivitäten, die der Pflege des Gemeinschaftslebens, dem Aufbau und Unterhalt der organisatorischen Strukturen oder der Sicherung der finanziellen Ressourcen dienen. Im Vergleich zu den großen Kirchen ist das Gemeindeleben in der Regel intensiver, sind persönliche Kontakte zwischen Mitgliedern häufiger und die Bereitschaft zum Engagement und persönlichen Einsatz höher. Ebenfalls im Unterschied zu den großen Kirchen besteht bei vielen neureligiösen Gemeinschaften eine starke Bereitschaft, den Glauben öffentlich zu bekennen und auch die alltägliche Lebensführung nach religiösen Grundsätzen zu gestalten. Damit im Zusammenhang steht bei einigen Gemeinschaften eine mehr oder weniger ausgeprägte Missionstätigkeit mit dem Ziel, andere Menschen vom Wert oder der Wahrheit der eigenen Religion zu überzeugen.

    Zu den einzelnen Unterpunkten:

    (a) "die von diesen Organisationen ausgehenden Gefahren für den Einzelnen, den Staat und die Gesellschaft erfassen"

    Nach den der Kommission zugänglichen Informationen gehen von den Organisationen der in Deutschland bestehenden neuen religiösen Bewegungen keine Gefahren für den einzelnen, den Staat oder die Gesellschaft aus. Wie die oben beschriebenen Erkenntnisse zeigen, kann jedoch die Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung für den einzelnen unter Umständen zum Auslöser psychischer Krisen werden. Die Mitgliedschaft kann auch zum Auslöser familiärer Konflikte werden. Diese Risiken werden in einem Gutachten deutlich artikuliert:

    "Das Risiko einer Kultmitgliedschaft besteht für den 'direkt Betroffenen' in einer möglichen negativen Reaktion zwischen Persönlichkeitsdisposition und Kultangebot, für den 'indirekt Betroffenen' in der mit der Konversion verbundenen Belastungen und Einflüssen in seinem sozialen System.

    Die Risiken bewegen sich nach übereinstimmendem Urteil der Gutachter im Rahmen dessen, was auch in anderen sozialen Kontexten beobachtet werden kann. Dies bedeutet nicht, daß die für den einzelnen daraus unter Umständen resultierenden Probleme vernachlässigt werden können. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, in denen persönliche Probleme auftreten können (z.B. Partnerschaft, Familie) ist auch hier die Gesellschaft in der sozialen Pflicht, geeignete Beratungsmöglichkeiten und Hilfestellungen zur Bewältigung persönlicher Probleme gravierender Art zu bieten.

    Es muß jedoch auch festgestellt werden, daß es grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, daß einzelne neue religiöse Gemeinschaften, insbesondere kleinere, wenig institutionalisierte Gruppen, Fehlentwicklungen nehmen, die zu akuten Gefährdungen ihrer Mitglieder führen können. Zu verweisen ist etwa auf Tötungsdelikte bzw. Selbsttötungen der Sonnentempler in der Schweiz und in Kanada sowie auf die Suizide von Mitgliedern der Gruppe Heaven's Gate in den USA. Es gelten hier ähnliche Bedingungen wie in anderen engen emotionalen Bindungen, wie etwa Familien, wo in bestimmten Konstellationen ebenfalls akute Gefährdungen auftreten können. In Deutschland sind solche Fälle bisher nicht bekannt. Sie sind auch nicht prognostizierbar.

    (b) "die offenen und verdeckten gesellschaftspolitischen Ziele dieser Organisationen aufarbeiten"

    Neben den oben skizzierten religiösen Zielen lassen sich keine "offenen gesellschaftspolitischen Ziele" erkennen, jedenfalls auf der Basis der verfügbaren Informationen. Dabei ist freilich zu beachten, daß religiöse Ziele unter Umständen deutliche gesellschaftspolitische Implikationen besitzen. Dies ergibt sich daraus, daß durch Religionen in der Regel bestimmte Werte und ethische Normen definiert werden. Vor allem - nicht nur - in vielen christlich orientierten Gemeinschaften wird Werten wie Familie und Ehe große Bedeutung beigemessen und bestehen relativ strikte Vorstellungen hinsichtlich der Sexualmoral. Hier besteht ein gewisses Spannungsverhältnis zu den Normen und Praktiken der gesellschaftlichen Umwelt. Insofern einzelne Gruppierungen das Ziel verfolgen, die eigenen Werte und Moralvorstellungen in der Gesellschaft zu propagieren, kann man also von einem gesellschaftspolitischen Ziel sprechen.

    Einzelne Gemeinschaften versuchen, bestimmte Lebens- und teilweise auch Wirtschaftsformen im eigenen Kreis zu verwirklichen. Soweit diese Wirtschaftsformen intern anders organisiert sind als die kapitalistische Marktwirtschaft, kann man auch hier von gesellschaftspolitischen Zielen sprechen.

    Grundsätzlich kann aber auch jede Missionstätigkeit als Ausdruck eines gesellschaftspolitischen Zieles angesehen werden. Denn Ziel der Mission ist es, die eigenen religiösen und damit auch moralischen Vorstellungen zu verbreiten. Religiöse Normen können dabei durchaus in Spannung zu den rechtlichen Normen der Gesellschaft treten. Dies ist z.B. der Fall, wenn aus religiösen Gründen der Schwangerschaftsabbruch abgelehnt wird und (offen oder verdeckt) das gesellschaftspolitische Ziel verfolgt wird, die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zu verhindern. Die Kommission war nicht in der Lage, diese moralischen und damit implizit politischen Vorstellungen zu untersuchen, da dies einen erheblichen Forschungsaufwand bedeuten würde.

    (c) "nationale wie internationale Verflechtungen der Organisationen darstellen"

    Einige der in der Öffentlichkeit bekannteren neuen religiösen Bewegungen sind erst nach Gründung der Bundesrepublik nach Deutschland gekommen, zumeist aus den oder über den Umweg der Vereinigten Staaten (z.B. ISKCON, Vereinigungskirche). Andere bestehen in Deutschland seit vielen Jahrzehnten, haben aber ihren Ursprung und oft auch ihre Zentren im Ausland (z.B. Zeugen Jehovas, Mormonen). Ein Teil ist in Deutschland entstanden und hat Anhänger im benachbarten Ausland oder auch außerhalb Europas (z.B. Universelles Leben, Fiat Lux). Viele der öffentlich weniger bekannten randkirchlichen Gemeinden unterhalten mehr oder weniger enge Beziehungen und Netzwerke, die auch Auslandskontakte umfassen.

    Diese Situation entspricht weitgehend dem, was in einer Zeit zunehmender Globalisierung zu erwarten ist. Daß Religionsgemeinschaften ihre Zentrale im Ausland haben, ist allerdings keineswegs ein ausschließlich neuzeitliches Phänomen. Es ist auch nicht ungewöhnlich, daß durch Religionsgemeinschaften Geld ins Ausland transferiert wird. Es lagen der Kommission keine Informationen vor, die es nahelegen würden, die internationalen Verflechtungen neuer religiöser Bewegungen anders zu bewerten als die der großen Kirchen.

    (d) "Grenzen der Inanspruchnahme der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit durch neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen, sogenannte Sekten und Psychogruppen, aufzeigen"

    Es bestand in der Kommission weitgehende Einmütigkeit in der Auffassung, daß die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit nur durch verfassungsimmanente Schranken begrenzt wird. Dies bedeutet, daß andere, gleichwertige Verfassungswerte nicht unter Berufung auf die Religionsfreiheit verletzt werden können.

    (2) Gründe für die Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungenund für die Ausbreitung solcher Organisationen

    Soweit es um die Gründe für die Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen geht, liefern die von der Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen relativ gute und detaillierte Auskünfte. Sie wurden oben im Abschnitt Individuelle Aspekte: Konversion, Mitgliedschaft und "Ausstieg" zusammengefaßt. Diese Ergebnisse können kaum weiter verdichtet werden, ohne daß notwendige Differenzierungen verloren gehen. Mit dieser Einschränkung könnte man sehr allgemein formulieren, daß Personen Mitglied einer neuen religiösen Bewegung werden, weil das von der betreffenden Gemeinschaft bereitgestellte Angebot ihnen attraktiv erscheint. Sie bleiben Mitglied, wenn und solange ihre damit verbundenen Erwartungen erfüllt werden. Ist dies nicht oder nicht mehr der Fall, distanzieren sie sich in der Regel von der betreffenden Gemeinschaft, was oft schon nach relativ kurzer Zeit geschieht.

    Hinsichtlich der Gründe für die Ausbreitung neuer religiöser Bewegungen ist zunächst festzustellen, daß keine gesicherten Informationen darüber vorliegen, ob und in welcher Hinsicht neue religiöse Bewegungen sich in Deutschland ausbreiten. Soweit es sich um bekanntere Gemeinschaften handelt, die seit vielen Jahren in der Öffentlichkeit genannt werden (z.B. Vereinigungskirche, ISKCON, Family) scheinen die Mitgliederzahlen zu stagnieren, wenn nicht deutlich rückläufig zu sein. Auch bei den seit Jahrzehnnten in Deutschland bestehenden neueren Religionen wird man kaum von einer weiteren Ausbreitung sprechen können. Andererseits gibt es Hinweise darauf, daß die Zahl der religiösen Gemeinschaften zunimmt. Allerdings liegen zu diesen quantitativen Fragen insgesamt der Kommission keine zuverlässigen Informationen vor. Solange ungeklärt ist, ob und in welcher Hinsicht neue religiöse Bewegungen sich ausbreiten, ist es auch nicht möglich, Gründe dafür zu benennen. Es werden hier somit erhebliche Defizite der religionssoziologischen Forschung in Deutschland erkennbar.

    Zu den einzelnen Fragen:

    (a) "untersuchen, welche Einstiegswege und Verläufe der Mitgliedschaft typisch sind"

    Dier Erkenntnisse zu den Komplexen "Einstieg" und "Mitgliedschaft" in eine neue religiöse Bewegung wurden oben dargestellt. Die wichtigsten Ergebnisse sind:

    "Eine typische biographische 'Sektendisposition' konnte in den Untersuchungen nicht belegt werden.

    "Es gibt weder den typischen Einstiegsprozeß noch den typischen Ausstiegsprozeß."

    "Es ist eine Frage der 'passenden' Bearbeitungsweisen und Bearbeitungsmöglichkeiten, ob ein Proband in einem Milieu oder einer Gruppe länger verweilt, diese wechselt oder wieder verläßt."

    Verallgemeinerungen sind also nicht möglich.

    (b) "aufklären, welche gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ursächlich für eine verstärkte Bereitschaft sind, sogenannten Sekten und Psychogruppen beizutreten"

    Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß keineswegs eindeutig geklärt ist, ob und in welchem Sinne gegenwärtig eine verstärkte Bereitschaft besteht, neuen religiösen Bewegungen beizutreten. Das Auftreten jeweils neuer religiöser Bewegungen ist eine historisch durchaus normale Erscheinung. Im Mittelalter und der Neuzeit wurden Formen abweichender Religiosität als "Ketzerei" oder "Häresie" bezeichnet, in der Neuzeit dann zunehmend als "Sekten". Einen knappen Abriß des Sektenwesens seit der Reformation gibt Helmut Obst:

    "Lutheraner, Reformierte und Anglikaner konnten, wenn auch auf bestimmte Gebiete begrenzt, ihre staatliche Anerkennung als 'Kirchen' durchsetzen, blieben freilich in den Augen der römisch-katholischen Kirche Sekten, Vereinigungen von Häretikern.

    Keine juristische Anerkennung fanden die Gemeinschaften am linken Rand der Reformation, die Täufer, Schwenkfelder und Antitrinitarier. Sie wurden von allen großen Religionsparteien verfolgt, waren für alle Häretiker. Religiöse Toleranz gab es, abgesehen von wenigen örtlich und zeitlich begrenzten Ausnahmen, nicht. Dennoch, die religiöse Gruppenbildung nahm, versteckt und offen, innerhalb und außerhalb der Konfessionskirchen seit der Reformation zu. Einen fruchtbaren Nährboden bildete der mystische Spiritualismus. Im Protestantismus wurde der Pietismus als umfassende Erneuerungsbewegung in seiner separatistischen Spielart zum Ausgangspunkt freier Gemeinden und Freikirchen. Offiziell war für religiöse Außenseiter, sieht man von den Niederlanden ab, in Europa kein Platz. Ihr Refugium wurde Nordamerika. Hier konnten sie sich entfalten, hier entstand schon sehr früh die für die Neuzeit charakteristische religiöse Pluralität.

    Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation waren nach dem Westfälischen Frieden von 1648 nur Katholiken, Lutheraner und Reformierte reichsrechtlich geschützt. Allen anderen religiösen Bekenntnissen wurde die Duldung versagt. Ihre Geschichte ist deshalb, wie die Historie der Täuferbewegung zeigt, durch blutige Verfolgung und Unterdrückung bestimmt."

    Vor dem Hintergrund von Repression und Verfolgung ist es verständlich, daß in der frühen Neuzeit die Bereitschaft, einer neuen religiösen Gemeinschaft - einer "Sekte" - beizutreten, durch die damit verbundenen persönlichen Nachteile begrenzt wurde. In Deutschland wurde erst im 19. Jahrhundert eine faktische Tolerierung und erst mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 eine rechtliche Gleichstellung religiöser Minderheiten erreicht.

    Mit dem Wegfall staatlicher Unterdrückung nahm seit dem 19. Jahrhundert auch die Ausbreitung neuer religiöser Gemeinschaften zu. Gleichzeitig wurden vor allem aus dem angelsächsischen Raum neue religiöse Gemeinschaften nach Deutschland eingeführt. Das Spektrum dieser in der Mehrzahl christlich geprägten neuen religiösen Bewegungen, die seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland auftraten und sich ausbreiteten, ist außerordentlich breit.

    Da auch das Bonner Grundgesetz die Religionsfreiheit garantiert, können sich in der Bundesrepublik Deutschland religiöse Minderheiten ungehindert entfalten. Zu den im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstandenen oder nach Deutschland gebrachten Gemeinschaften kamen insbesondere seit den sechziger Jahren neue religiöse Bewegungen nach Deutschland, die sich an anderen als christlichen Traditionen orientieren. Das Interesse an östlichen Religionen und Weisheitslehren berührte sich teilweise mit einer allgemeinen Kritik an bestimmten Formen der modernen Zivilisation, wie sie sich u.a. in der New-Age-Bewegung artikulierte. Parallel dazu verloren die großen Kirchen sowohl an Mitgliedern als auch an intellektuellem Einfluß in der Gesamtgesellschaft.

    Zusammenfassend kann man feststellen: Die wahrscheinlich wichtigste gesellschaftliche und politische Bedingung für die seit dem 19. Jahrhundert verstärkte Bereitschaft, sich neuen religiösen Bewegungen zuzuwenden, liegt in der verfassungsmäßigen Garantie der Religionsfreiheit. Als weitere Faktoren wären zu nennen: der Rückgang des Einflusses der großen Kirchen sowie damit im Zusammenhang die Pluralisierung der Lebensformen und Sinndeutungen, wie sie in modernen Gesellschaften allgemein zu beobachten ist. Soweit es um die allgemeinen Rahmenbedingungen für das Entstehen und die Weiterentwicklung neuer religiöser Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland geht, verweisen wir auf Abschnitt 3.1 des Berichts der Kommissionsmehrheit, dem wir uns insofern anschließen.

    (c) "feststellen, welche Anwerbungs- und Rekrutierungsstrategien von diesen Organisationen verfolgt werden"

    Zu der Frage der Anwerbungs- und Rekrutierungsmethoden liegen keine verallgemeinerungsfähigen Erkenntnisse vor. Die verschiedenen neuen religiösen Bewegungen unterscheiden sich stark hinsichtlich der Bedeutung, die sie aktiver Mission beimessen und auch hinsichtlich der Missionsmethoden. Ganz offensichtlich unterscheiden sie sich auch stark hinsichtlich des Missionserfolges.

    Allgemein läßt sich allerdings feststellen:

    "Die Rekrutierung zu einer NRB ist kein passives Geschehen, bei dem der Rekrut einer dominierenden Macht ausgesetzt ist, sondern er ist aktiv am Prozeß der Mitgliedschaft beteiligt. Diese erfolgt in der Regel über einen längeren Zeitraum über mehrere Stufen der Annäherung. Längst nicht jede Person, die sich auf eine erste Begegnung mit einer NRB einläßt, wird auch Mitglied."

    Für Deutschland liegen keine empirischen Forschungen vor, die sich mit der Frage der Bedingungen und des Erfolges von Missionsversuchen neuer religiöser Bewegungen befassen. Aus dem angelsächsischen Raum gibt es jedoch eine Fülle von wissenschaftlichen Untersuchungen, die deutlich machen, daß die Rekrutierung neuer Mitglieder in der Mehrzahl der Fälle über bestehende persönliche Kontakte und Netzwerke geschieht, durch Freunde und Bekannte. Dieser Befund wurde auch durch die von der Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen bestätigt, wie oben dargelegt wurde.

    Als empirisch gut gesichert kann auch gelten, daß das im engeren Sinne religiöse Angebot neuer religiöser Gemeinschaften (z.B. religiöser Kult und Unterweisung) nicht der wichtigste Faktor für die Attraktivität einer Gruppe ist. Wichtiger sind die Beziehungen und der persönliche Kontakt zwischen den Mitgliedern. Nur wenn ein neues Mitglied befriedigende Beziehungen mit anderen Gruppenmitgliedern aufbaut, wird es in der Gruppe bleiben. Die Integration neuer Mitglieder verläuft dabei nicht prinzipiell anders als in anderen Gruppen.

    (d) "Vorschläge erarbeiten, auf welche Weise verhindert werden kann, daß Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen, Verbände und Interessenvertretungen unbewußt in solche Organisationen hineingezogen bzw. von diesen mißbraucht werden"

    Der Kommission lagen keine Informationen vor, die es nahelegen würden, daß Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen, Verbände und Interessenvertretungen unbewußt in neue religiöse Bewegungen hineingezogen bzw. von diesen mißbraucht werden.

    Es ist im Einzelfall nicht auszuschließen, daß Personen beim Erstkontakt mit einer neuen religiösen Bewegung nicht hinreichend über die betreffende Gemeinschaft informiert werden. Allerdings ist es nicht bekannt und von der Sache her auch unwahrscheinlich, daß eine Person Mitglied wird, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es muß hier wieder auf die der Kommission vorliegenden Erkenntnisse verwiesen werden, wonach die Annäherung an eine neue religiöse Bewegung als ein interaktiver Prozeß zu sehen ist, an dem das neue Mitglied aktiv beteiligt ist.

    Auf die grundsätzlich in allen sozialen Strukturen vergleichbarer Art gegebenen Möglichkeiten von Konflikten und Mißbräuchen wurde oben hingewiesen. Die Möglichkeiten einer allgemeinen Prävention erscheinen gering. Die Probleme sind hier ähnlich wie etwa bei Konflikten und Fehlleistungen in Familien. Es ist jedoch möglich und notwendig, durch ein entsprechendes Angebot an Beratung für die Betroffenen Hilfe zu bieten.

    Soweit es sich bei Mißbrauchsfällen um kriminelle Handlungen handelt, sind die Staatsanwaltschaften zuständig.

    2. Erkenntnisse zum Bereich "Psychomarkt" und "Psychogruppen"

    Neben neuen religiösen Bewegungen waren der "Psychomarkt" und "Psychogruppen" zentrale Gegenstände der Kommissionsarbeit. Dieser Bereich geht deutlich über die im Einsetzungsbeschluß genannten "neueren weltanschaulichen Bewegungen" hinaus und überschneidet sich damit allenfalls in Randzonen. Ebenfalls geringe Schnittmengen bestehen zum Bereich "neuere religiöse Bewegungen".

    a. Abgrenzung und quantitative Aspekte

    Die im Auftrag der Enquete-Kommission unternommene Analyse "Anbieter und Verbraucher auf dem Psychomarkt" versteht darunter "unkonventionelle Heil- und Lebenshilfemethoden" wie Massage- und Entspannungstechniken, Natur- und Pflanzenheilkunde, Homöopathie und Akupunktur sowie meditative Techniken und esoterische Verfahren wie Astrologie. Im engeren Sinne wird man unter "Psychomarkt" vor allem alternative Therapieverfahren aus dem Bereich "New Age" und "Esoterik" verstehen, jedoch fehlt es an einer genauen Abgrenzung. Zum Psychomarkt werden auch die zahlreichen Buchpublikationen in diesem Bereich gezählt, die 7-10 % aller Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt ausmachen sollen. Es liegen keine Informationen vor über die Zahl der Anbieter von Therapien und Kursen auf dem Psychomarkt. Die Nutzungshäufigkeit alternativer Verfahren wird für Deutschland mit 46 % der Bevölkerung (Stand 1992) angegeben, international liegt sie zwischen 20 und 50 %.

    Die Nutzer des "Psychomarktes" sind in der Regel nicht in Gruppen organisiert. Soweit jedoch die Anbieter organisiert sind oder bestimmte Formen der Therapie oder Persönlichkeitsentwicklung nicht individuell, sondern in Gruppensitzungen angewandt werden, kann man von "Psychogruppen" zu sprechen. Eine genauere Abgrenzung wurde von der Kommission nicht vorgenommen. Der Kommission lagen keine Informationen über die Zahl der Psychogruppen oder ihrer Mitglieder vor. Allerdings wird in der Regel die Scientology Organisation zu den Psychogruppen gezählt.Die gegenwärtige Zahl der Mitglieder der Scientology Organisation wird auf 6.000 bis 10.000 geschätzt.

    b. Ergebnisse der Untersuchung zum "Psychomarkt"

    Die Ergebnisse der von der Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchung "Anbieter und Verbraucher auf dem Psychomarkt" sind in den Abschnitten 3.5.1 und 3.5.2 des Berichtes der Kommissionsmehrheit dargestellt. Wir schließen uns diesem Teil des Berichtes an.

    Soweit es um die Diskussion von "Problemen, Gefahren und negative Erfahrungen" und ein "Fazit" geht (Abschnitte 3.5.3 und 3.5.4) handelt es sich nicht um Ergebnisse der erwähnten Untersuchung.

    Wir teilen jedoch die Auffassung der Kommissionsmehrheit, daß die Ergebnisse der in Auftrag gegebenen Untersuchung allein keine ausreichende Basis für eine allgemeine Beurteilung des "Psychomarktes" ist und daß ein erheblicher Forschungsbedarf besteht. Dabei wird es notwendig sein, zu einer deutlichen Differenzierung der unter dem Sammelbegriff "Psychomarkt" subsumierten Angebote und Methoden zu gelangen. Die Tatsache, daß mehr als 80 % der befragten Nutzer alternativer Lebenshilfe subjektiv zufrieden waren, erlaubt keine Rückschlüsse auf die Wirksamkeit einzelner Methoden und Verfahren. Umgekehrt erlaubt der Hinweis, daß es auch "problematische Erfahrungen" gebe, auch keine Rückschlüsse auf den Gesamtbereich des "Psychomarktes". Der Kommission lagen keine Erkenntnisse vor, die es rechtfertigen würden, Formen alternativer Therapien und Lebenshilfe grundsätzlich für risikoreicher zu halten als konventionelle Therapieformen. Allerdings scheint es weitgehend an klaren professionellen Standards und Transparenz zu fehlen, so daß im Einzelfall durchaus Risiken bestehen können, die für die Klienten nicht hinreichend erkennbar sind.

    Die Forschung wird sich ebenso mit den offensichtlich überwiegend positiven Erfahrungen wie mit den möglicherweise bestehenden Risiken befassen müssen.

    c. Ergebnisse der Untersuchung zu "Psychogruppen"

    Ein Teilprojekt des Forschungsprojektes "Aussteiger, Konvertierte und Überzeugte" hat sich mit dem Bereich "Psychokulte/Esoterik" befaßt. Dabei wurden biographische Interviews mit aktiven oder ehemaligen Mitgliedern bzw. Teilnehmern folgender Gruppierungen und Seminarveranstalter geführt: Ayahuasca, Bruno-Gröning-Kreis, Hannes Scholl, Kontext, Landmark, Life Coaching, Quadrinity Prozess, Silva Mind, The Natale Institute (TNI), Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG). Gemeinsam ist diesen Gruppen, daß sie verschiedene Formen von (psychischer oder physischer) Therapie oder Lebenshilfe anbieten. Die zugrundeliegenden theoretischen und weltanschaulichen Annahmen unterscheiden sich zum Teil erheblich, basieren jedoch in der Regel auf Annahmen, die nicht wissenschaftlich oder schulmedizinisch begründet sind. In diesem Punkt bestehen deutliche Überschneidungen mit dem nicht in Gruppen organisierten "Psychomarkt" und zur "Esoterik".

    Allerdings muß festgestellt werden, daß der Grad der Organisation der meisten untersuchten "Psychokulte" sich deutlich von dem der neuen religiösen Bewegung unterscheidet. Von einer "Mitgliedschaft" im eigentlichen Sinne kann in den meisten Fällen nicht gesprochen werden:

    "Einige Seminarveranstalter regen zwar die Bildung von Bekanntschaftsgruppen von Absolventen an, aber einen klaren Mitgliedschaftsstatus gibt es nur bei wenigen Gruppierungen (vor allem Bruno Gröning), also auch kein klares Ende dieses Status ('Ausstieg')."

    "Die Begriffe 'Einsteiger', 'Aussteiger' o.ä. sind nur für wenige Gruppierungen angemessen. Die meisten Begegnungen mit einer Gruppierung bzw. einem Seminarveranstalter können nicht nach dem Bilde des Mitgliedschaftsstatus beschrieben werden."

    Es ist deshalb auch nur mit Einschränkung möglich, die "Einmündung" in eine dieser "Psychokulte", mit der Konversion zu einer neuen religiösen Bewegung zu vergleichen:

    "In keinem Fall liegt eine Konversion im Sinne eines umfassenden Übergangs zu einem neuen Denk- bzw. Glaubenssystem vor. In einigen Interviews werden zwar in der Lebensgeschichte seit der Kindheit und Jugend die Voraussetzungen für die heutige Welt- und Lebensanschauung hervorgehoben [...], es fehlt aber die 'Umkehr' ganz."

    Allerdings besteht eine gewisse Parallele zur Konversion zu religiösen Bewegungen in dem Befund, daß die Begleitumstände und Motive, die zur Hinwendung zu einem "Psychokult" führen, in hohem Maße vom jeweiligen Einzelfall abhängen und Verallgemeinerungen schwer möglich sind. Auf der Basis der biographischen Interviews und ihrer Analyse unterscheidet die Untersuchung verschiedene Typen des Zugangs bzw. der "Einmündung":

    A. "aus Interesse, lernbereit"

    B. "auf der Suche nach Therapie"

    C. "hingeschickt, veranlaßt oder unter Druck"

    D. "auf der Suche nach einem Platz im Leben"

    E. "um die Erfahrung mit anderen Interaktionspartnern zu teilen"

    F. "auf der Suche nach Lebensgestaltungskraft"

    Es ist bemerkenswert, daß bis auf Typ C, in dem der Zugang auf Veranlassung oder unter Druck einer anderen Person, z.B. eines Familienmitgliedes (denkbar wäre aber auch etwa die Veranlassung eines Arbeitgebers), erfolgt, die Beteiligten in der Regel aktiv und bewußt die Beziehung eingehen. Die Untersuchung belegt nicht die Annahme, daß Personen von den Gruppen oder Anbietern gleichsam gegen ihren Willen zur Teilnahme "verführt" oder "verleitet" würden:

    "In keinem Fall wird jemand in eine Gruppierung 'hineinmanipuliert', niemand wird 'übertölpelt'. Der Typ C 'hingeschickt, veranlaßt oder unter Druck' wird ja nicht von der Gruppierung hingezogen, sondern von nahen Interaktionspartnern seines sozialen Feldes hingeschoben. Die problematischen biographischen Folgen bei Typ C entstehen (wahrscheinlich) weniger wegen Lehre und Praxis der Gruppierung, sondern eher als Folge der Beziehungsdynamik zu jenen nahen Interaktionspartnern, die den Druck ausübten."

    "In keinem Fall ist die Begegnung mit einer Gruppierung usw. marktförmig ('Psychomarkt') zustande gekommen. Immer waren es signifikante Andere, mindestens entferntere Bekannte, die die Aufmerksamkeit auf das Angebot gelenkt haben."

    Diese Konstellation ähnelt der, die bei der Annäherung an neue religiöse Bewegungen festgestellt würde. Der Befund zeigt, daß gezielte Anwerbung von Personen offenbar nur eine untergeordnete Bedeutung für die Wahrnehmung des Angebotes eines "Psychokultes" besitzen.

    Andererseits konnte auch die Vermutung nicht bestätigt werden, daß bestimmte biographische Konstellationen Personen gleichsam dazu prädisponieren, sich "Psychokulten" zuzuwenden:

    "Trotz intensiver Suche konnte keine biographische Konstellation (etwa Orientierungsprobleme in der Schule, bei der Berufsfindung, bei der Partnersuche; Versuch, aus sozialer Isolierung herauszukommen) ermittelt werden, die allen Fällen eines Typus gemeinsam wäre, die gemeinsame Voraussetzung für die Einmündung in eine Gruppierung bildete. Die Gründe bzw. Auslöser dafür, ob jemand bei einer Gruppierung usw. bleibt oder nicht, sind demgemäß (vermutlich) nicht gesamtbiographischer Art, sondern aus den hier zentral gemachten Prozeßformen erklärbar. [...]

    Jenseits dieses Ergebnisses finden sich jedoch, die Typen in gewisser Weise übergreifend, in 10 von 15 Fällen Hinweise auf starke Störungen des Sozialisationsprozesses, genauer: der Identitätsentwicklung im Verhältnis zu den Eltern."

    Wegen der in der Untersuchung angewandten Methoden ist es nicht möglich, diese Ergebnisse im quantitativen Sinne zu interpretieren und beispielsweise Aussagen zur statistischen Häufigkeit bestimmter Konstellationen zu machen. Außerdem erlaubt es die empirische Basis dieser Untersuchung nicht, die Folgen der Teilnahme an Seminaren oder der Mitgliedschaft in Gruppen dieser Art allgemein zu bestimmen. Es lagen der Kommission auch keine anderen empirischen Forschungsergebnisse vor, die es gestatten würden, zu dieser Frage generalisierende Feststellungen zu treffen. Ähnlich wie beim Komplex "Psychomarkt" ist auch der Bereich "Psychokulte" oder "Psychogruppen" höchst heterogen. Es besteht ein erheblicher Bedarf an empirischen Untersuchungen, die sich mit einzelnen Therapieformen und Gruppierungen befassen. Der Begriff "Psychogruppen" suggeriert eine Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit, die nach den vorliegenden Informationen in der Praxis nicht zu bestehen scheint.

    d. Analyse nach den Vorgaben des Einsetzungsbeschlusses

    Es muß hier nochmals betont werden, daß mit den Begriffen "Psychomarkt" und "Psychogruppe" ein kaum überschaubares Spektrum unterschiedlicher Methoden, Verfahren, Veranstaltungen sowie theoretischer und weltanschaulicher Annahmen verbunden wird. Zu den "Psychogruppen" wird auch die Scientology Organistion gerechnet. Dies trägt dazu bei, daß mit dem Begriff - ähnlich wie mit dem Begriff "Sekte" - im öffentlichen Sprachgebrauch überwiegend negative Assoziationen verbunden werden. Da die Scientology Organisation in vieler Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt, wird sie in einem eigenen Abschnitt behandelt und hier nicht berücksichtigt.

    (1) Analyse von Zielen, Aktivitäten und Praktiken der in der Bundesrepublik Deutschland agierenden Psychogruppen

    Es geht hier um die Untersuchung der von "diesen Organisationen ausgehenden Gefahren", ihre "offenen und verdeckten gesellschaftspolitischen Ziele", ihre "nationalen und internationalen Verflechtungen" und die "Grenzen der Inanspruchnahme der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit".

    Soweit dies aufgrund der der Kommission vorliegenden Erkenntnisse festgestellt werden kann, kann man bei vielen, wenn nicht bei den meisten Psychogruppen nur bedingt von "Organisationen" sprechen. Die Sozialform ist zumeist die einer Beziehung von Anbieter, Therapeut oder Lehrer zu Klienten. Im Unterschied zu neuen religiösen Bewegungen, wo Gruppenbildung und die persönlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern eine wichtige Rolle spielen, sind in den meisten Psychogruppen die Beziehungen der Klienten untereinander weniger bedeutend. Allerdings wird in einigen Fällen angeregt, daß die Klienten auch außerhalb der Kurse private Kontakte zueinander aufbauen und unterhalten, so daß es auch zu Gruppenbildungen kommen kann. Jedoch scheinen solche Fälle die Ausnahme zu sein.

    Die relativ lose Bindung der Klienten an die Anbieter oder Lehrer macht es schwierig, die genauen Grenzen der "Organisationen" zu bestimmen. Die Lehrer einer bestimmten Methode oder Tradition können untereinander Netzwerke unterhalten oder sogar formale Vereinigungen und Organisationen. Soweit dies aufgrund der verfügbaren Informationen erkennbar ist, verfolgen solche Netzwerke und Organisationen keine im engeren Sinne politischen Ziele. Es ist auch nicht erkennbar, daß von diesen Organisationen Gefahren für den einzelnen, den Staat oder die Gesellschaft ausgehen. Davon zu unterscheiden ist selbstverständlich die Frage, ob von den angewandten Methoden möglicherweise Risiken für die Klienten ausgehen.

    Es liegen keine Informationen darüber vor, wie groß die Zahl der Anbieter ist, die einer formalen Vereinigung oder Organisation angehören. Ebensowenig ist bekannt, wieviele Anbieter ohne eine solche Anbindung arbeiten. Hinsichtlich der "internationalen Verflechtungen" kann jedoch festgestellt werden, daß viele, wenn nicht die meisten der angebotenen Methoden der Persönlichkeitsentwicklung auch außerhalb Deutschlands bekannt sind und benutzt werden. Insofern besteht auch ein internationaler Austausch, über dessen Intensität jedoch nichts gesagt werden kann. In einigen, anscheinend sehr wenigen Fällen bestehen allerdings formale Organisationen, die international aktiv sind.

    Die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit und ihre Grenzen sind im Zusammenhang mit "Psychogruppen" von geringer Bedeutung. Abgesehen von der Scientology Organisation erheben die als "Psychogruppen" klassifizierten Anbieter von Therapien und Persönlichkeitsentwicklung in der Regel nicht den Anspruch, Religionen zu sein. Soweit einige von dritter Seite als religiöse Bewegungen bezeichnet werden, wird diese Klassifizierung in der Regel von den betreffenden Organisationen zurückgewiesen.

    (2) Gründe für die Mitgliedschaft in einer Psychogruppe und für die Ausbreitung solcher Organisationen

    Wie dargelegt, kann man bei "Psychogruppen" nur mit Einschränkung von "Mitgliedern" sprechen, da es sich in der Regel um Beziehungen zwischen Lehrern und Klienten handelt. In einigen Fällen kommt es allerdings auch zu Gruppenbildungen mit Mitgliedschaft.

    Es lagen der Kommission keine Informationen über typische "Einstiegswege und Verläufe der Mitgliedschaft" vor, die über das hinausgehen, was oben als Ergebnis der empirischen Untersuchung beschrieben wurde. Dies bedeutet, daß es keine typischen Einstiegswege und Mitgliedschaftsverläufe gibt. Gleiches gilt für "Anwerbungs- und Rekrutierungsstrategien", die eine geringe Bedeutung bei der Einmündung in Psychogruppen zu besitzen scheinen. Die Frage, "welche gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ursächlich für eine verstärkte Bereitschaft sind", einer Psychogruppe "beizutreten", konnte von der Kommission nicht geklärt werden. Soweit es um die allgemeinen Rahmenbedingungen für das Entstehen und die Weiterentwicklung neuer religiöser und weltanschaulicher Gruppen und Bewegungen geht, verweisen wir auf Abschnitt 3.1 des Berichts der Kommissionsmehrheit, dem wir uns insofern anschließen.

    Es lagen auch keine Informationen darüber vor, die darauf hindeuten, daß "Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen, Verbände, Interessenvertretungen und andere Institutionen unbewußt in solche Organisationen hineingezogen bzw. von diesen mißbraucht werden".

    e. Zwischenresümee

    Es kann festgestellt werden, daß eine generalisierende Betrachtung von "Psychomarkt" und "Psychogruppen" nicht geeignet ist, bestehende Gefahren und Risiken zu beschreiben. Die hohe Komplexität und Heterogenität des Gegenstandes erlauben es weder, die in einzelnen Bereichen zweifellos bestehenden Risiken als typisch anzusehen, noch die ebenso zweifellosen positiven Erfahrungen und Möglichkeiten einseitig in den Vordergrund zu stelllen. Die vorliegenden Erkenntnisse erlauben keine Generalisierung in irgendeiner Richtung. Aus der Tatsache, daß keine Hinweise darauf vorliegen, daß von bestimmten Organisationen eine Gefahr ausgehe, kann nicht geschlossen werden, daß die angewandten Methoden und Verfahren risikolos seien. Es kann aufgrund der vorliegenden Informationen auch nicht ausgeschlossen werden, daß einzelne Anbieter über eine nur ungenügende Qualifikation in den angewandten Methoden verfügen. Die extreme Unübersichtlichkeit dieses Bereiches macht es geradezu wahrscheinlich, daß auch unseriöse Anbieter hier tätig sind. Allerdings erlaubt dies nicht den weitergehenden Schluß, alle oder die Mehrzahl der Anbieter seien unseriös oder nicht qualifiziert. Es liegt im Interesse sowohl der Nutzer als auch der Anbieter, daß professionelle Qualifikationskriterien und berufsethische Konventionen erarbeitet werden, die geeignet sind, für höhere Transparenz zu sorgen und das Risiko vermindern, an unseriöse Anbieter zu geraten.

    Die vorliegenden Erkenntnisse haben auch gezeigt, daß es notwendig ist, neue religiöse Bewegungen und den Psychomarkt bzw. Psychogruppen klar voneinander zu unterscheiden. Sowohl nach dem jeweiligen Selbstverständnis als auch in ihrem tatsächlichen Erscheinungsbild unterscheiden sich die beiden Bereiche beträchtlich. Auch die jeweils bestehenden Probleme sind nicht gleichgelagert. So ist insbesondere darauf hinzuweisen, daß im Bereich Psychomarkt/Psychogruppen explizite Angebote an Therapie und Persönlichkeitsentwicklung gemacht werden und dazu bestimmte Techniken angewandt werden. Damit ist das Risiko einer unsachgemäßen Anwendung und vielleicht auch des Mißbrauchs dieser Techniken gegeben. Bei den meisten neuen religiösen Bewegungen spielen dagegen explizite Techniken zur Veränderung der subjektiven Befindlichkeit keine oder nur eine geringe Rolle (etwa in Form von Meditation). Etwaige Persönlichkeitsveränderungen sind hier in der Regel eine Folge der Gruppenbeziehung. Risiken bestehen deshalb in erster Linie darin, daß es zu Spannungen der Sozialbeziehungen innerhalb der Gemeinschaft oder mit Außenstehenden kommt.

    f. Scientology

    Die Scientology Organisation nimmt in der öffentlichen Diskussion um sogenannte Sekten und Psychogruppen einen in vieler Hinsicht besonderen Platz ein. Dies gilt einmal in quantitativer Hinsicht: Über keine andere Organisation oder Bewegung aus diesem Bereich wird in den Medien so häufig berichtet wie über Scientology; keine andere ist so häufig Anlaß für Anfragen bei Beratungsstellen. Es gilt aber auch in qualitativer Hinsicht: Gegen keine andere Organisation oder Bewegung werden so massive Vorwürfe bis hin zu kriminellen und verfassungsfeindlichen Aktivitäten erhoben wie gegen Scientology; und keine andere Organisation hat auf Kritik in ähnlich aggressiver und überzogener Weise reagiert wie Scientology. Der insbesondere in den Vereinigten Staaten aber auch in Deutschland geführte Propagandafeldzug, in dem die Situation von Scientology in der Bundesrepublik mit der der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus verglichen wurde, offenbart nicht nur eine rücksichtslose Bereitschaft zur Desinformation, sondern belegt zugleich eine ausgeprägte Neigung, Konflikte konfrontativ auszutragen. All dies macht es notwendig, Scientology gesondert zu betrachten. Es kann nicht darauf verzichtet werden, die mit dieser Organisation verbundenen Konflikte und Probleme zu thematisieren. Zugleich wäre es aber auch nicht sachgerecht, dies in die Darstellung der neuen religiösen Bewegungen und Psychogruppen zu integrieren, weil damit der Eindruck befördert würde, es handele sich dabei um Konflikte und Probleme, die tendenziell auch bei anderen Gruppierungen bestehen.

    (1) Allgemeine Informationen; Organisation und Mitgliedschaft

    Die Kommission hat sich eingehend mit der Scientology Organisation befaßt. Dabei wurde davon ausgegangen, daß es sich trotz der Selbstbezeichnung "Scientology Kirche" nicht um eine Religionsgemeinschaft oder neue religiöse Bewegung handele, ohne daß jedoch diese Frage im Detail behandelt wurde. Für die von der Kommission im Zusammenhang mit Scientology behandelten Themen ist diese Frage auch sekundär, weil es nicht um die Analyse und Bewertungen religiöser oder weltanschaulicher Lehren, sondern in erster Linie um Praktiken der Organisation ging.

    Die Informationen der Kommission stützen sich in erster Linie auf die Auskünfte der sachverständigen Mitglieder, auf Dokumente der Scientology Organisation, die Aussagen von angehörten "Aussteigern" und wissenschaftlichen Sachverständigen, Stellungnahmen amtlicher Stellen sowie auf allgemein zugängliche Informationen wie Presseberichten. Vertreter der Scientology Organisation wurden zu einer Anhörung der Enquête-Kommission eingeladen, waren dabei jedoch nicht zur Beantwortung von Fragen bereit. Außerdem hat ein Teil der Kommissionsmitglieder während einer Reise in die USA Gespräche mit zahlreichen Personen geführt, die dort mit Scientology befaßt sind.

    Nach der von der Kommission gebrauchten Terminologie wird man Scientology als "Psychogruppe" bezeichnen können. Dafür spricht, daß Angebote von Kursen oder Techniken, mit denen die eigene Persönlichkeit entwickelt werden kann, ein wesentliches Element sind. Ähnlich wie bei vielen anderen "Psychogruppen" ist es schwierig, klare Grenzen der "Mitgliedschaft" zu ziehen. Selbst die wiederholte Teilnahme an Kursen begründet allein keinen Mitgliedschaftsstatus. Die Teilnehmer verlassen in der Regel auch nicht ihr normales soziales Umfeld. Daneben gibt es aber auch Personen, die gegen Entgelt oder auch unentgeltlich für die Organisation arbeiten. Bei diesem "Personal" kann man von einem mitgliedschaftsähnlichen Status sprechen, zumal dann, wenn damit die formale Mitgliedschaft in einer rechtsfähigen Organisation verbunden ist. Der Kommission lagen keine Informationen darüber vor, in welchem Maße solche formellen Mitgliedschaften in Deutschland bestehen. Vor diesem Hintergrund sind Zahlenangaben über die Anzahl der Mitglieder grundsätzlich wenig aussagekräftig, solange nicht spezifiziert wird, was als Kriterium der Mitgliedschaft gilt. Im Verfassungsschutzbericht 1997 wird die Zahl der Mitglieder auf "deutlich unter 10.000" geschätzt.

    Im Unterschied zu den meisten anderen Psychogruppen ist die Scientology Organisation in hohem Grad formal organisiert. Die Organisation ist deutlich hierarchisch und bürokratisch geprägt und international vernetzt. Sitz der Zentrale ist Los Angeles. Wie weit die formalen Strukturen der Administration auch in der Praxis umgesetzt und funktionsfähig sind, läßt sich nicht allgemein sagen. Nach den der Kommission vorgelegten Informationen kann jedoch davon ausgegangen werden, daß dies in der Regel der Fall ist. Dafür spricht auch die erkennbar hohe Abstimmung zwischen den Aktivitäten in Deutschland und den Vereinigten Staaten, die in der erwähnten Propagandakampagne deutlich wurde.

    Ebenfalls im Unterschied zu den meisten anderen Psychogruppen sind die theoretischen und weltanschaulichen Grundlagen, auf denen die in den Kursen angebotenen Techniken beruhen, in hohem Maße ausgearbeitet, und zwar in den Schriften von L. Ron Hubbard. Ein Teil der Lehren und metaphysischen Spekulationen ist nicht allgemein zugänglich, sondern wird (offiziell) nur nach Durchlaufen verschiedener vorbereitender Kurse in den "höheren Stufen" des Systems gelehrt. Die Kommission hat sich mit diesen Lehren nicht befaßt.

    Die Kommission hat sich nicht mit den "Gründen für die Mitgliedschaft in [...] und für die Ausbreitung" der Scientology Organisation befaßt. Soweit dies aus anderen Quellen erkennbar ist, scheinen die Mitgliedschaftsverläufe ähnlich vielfältig zu sein wie in anderen Psychogruppen. In einer älteren soziologischen Untersuchung werden drei Typen von Motiven unterschieden, die Personen zu einer Annäherung an Scientology veranlassen. Ebenso werden auch verschiedene Gründe angeführt, die zu einem "Ausstieg" führen. Auch publizierte Erfahrungsberichte ehemaliger Scientology-Anhänger zeigen, daß der "Ausstieg" keineswegs grundsätzlich konflikthaft erfolgt oder von "Psychoterror" begleitet ist. Allerdings ist unbezweifelbar, daß die Organisation auf öffentliche Kritik in vielen Fällen äußerst aggressiv reagiert.

    (2) Politische Aspekte

    Die Erkenntnisse der Kommission gehen nicht wesentlich über das hinaus, was aufgrund von Presseveröffentlichungen und Berichten amtlicher Stellen bereits allgemein in der Öffentlichkeit bekannt ist. Auf der Basis bestimmter Äußerungen in den Schriften Hubbards sowie interner Dokumente ist die Mehrheit der Landesverfassungsämter 1997 zu dem Schluß gelangt, daß tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der Organisation vorliegen. Die Konferenz der Innenminister hat auf ihrer Sitzung am 5./6. Juni 1997 festgestellt, daß damit die Voraussetzungen für eine Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden gegeben sind. Im Verfassungsschutzbericht 1997 werden diese Anhaltspunkte wiederholt, ohne daß darüber hinausgehende Erkenntnisse beschrieben werden. Da die Verfassungsschutzbehörden "nach Jahresfrist" der Konferenz der Innenminister über die Ergebnisse der Beobachtung berichten sollen, ist davon auszugehen, daß in Kürze genauere Informationen zur Frage verfassungsfeindlicher Bestrebungen der Scientology Organisation vorliegen werden. Der Kommission lagen keine Informationen vor, von denen anzunehmen wäre, daß sie nicht auch den Verfassungsschutzbehörden zugänglich sind.

    Unabhängig von der Frage vermuteter verfassungsfeindlicher Bestrebungen wurden einzelne Praktiken der Scientology Organisation behandelt. Die Kommission wurde durch die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen darüber informiert, daß die Scientology Organisation im Ausland (USA, Großbritannien, Dänemark) straflagerähnliche Einrichtungen unterhalte ("Rehabilitation Project Force"), in denen Mitglieder mißhandelt und ihrer Freiheit beraubt würden. Nach diesen Berichten kommt es zu systematischen Verstößen gegen Menschenrechte. Wir halten es für dringend geboten, die Regierungen der betreffenden Staaten auf geeignetem Weg zu veranlassen, diesen Berichten nachzugehen. Es liegen keine Hinweise auf vergleichbare Einrichtungen in Deutschland vor. Auch nach Presseberichten, die sich auf den Leiter des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz berufen, gibt es gegenwärtig keine Erkenntnisse über strafbare Handlungen des als Geheimdienst der Scientology Organisation angesehenen "Office of Special Affairs" (OSA). Allerdings würden Kritiker und Aussteiger mit "Psychoterror" verfolgt.

    (3) Wirtschaftliche Aspekte

    Die wirtschaftlichen Aktivitäten der Scientology Organisation verdienen besondere Beachtung. Nicht nur die sehr hohen Gebühren für die Teilnahme an Kursen, sondern auch der Anspruch mit den "Technologien" Hubbards zum wirtschaftlichen Erfolg zu finden, spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Die Verbindung einer deutlich kommerziellen Orientierung mit einem weltanschaulich-metaphysischen Überbau haben in der Öffentlichkeit plakative Charakterisierungen wie "Kapitalismus als Religion" provoziert. Dem entsprechen auch der hohe Erfolgs- und Wachstumsdruck, der in Scientology-nahen Unternehmen bestehen soll, sowie die damit verbundene Auswahl von Mitarbeitern nach Kriterien der Effizienz und Leistungsfähigkeit im Sinne der Unternehmensziele.

    Von der Kommission befragte Fachleute wiesen darauf hin, daß der Scientology Organisation nahestehende Personen lokal zumindest in der Immobilienbranche Einfluß ausüben. Dabei sollen in einigen Städten Makler bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen mit rabiaten Methoden auf Mieter Druck ausgeübt haben. Scientology nahestehende Unternehmen sollen nicht nur im Immobilienbereich, sondern auch in der Personal- und Managementschulung tätig sein. Über die Schulungen - so wird unterstellt - kann die Organisation über Multitplikatoren Einfluß in Unternehmen gewinnen. In welchem Ausmaß dies in der Bundesrepublik Deutschland geschehen ist, ob es sich um ein bedeutsames oder marginales Phänomen handelt, ist auch nach den Befragungen von Verbandsvertretern durch die Enquête-Kommission nicht geklärt. Repräsentative empirische Befunde zu dieser Frage liegen nicht vor.

    Angelika Christ und Steven Goldner kommen in ihrer Untersuchung "Scientology im Management" zu dem Ergebnis, daß es für einen "Aufkauf der Wirtschaft" durch Scientology keine Anzeichen gebe. Die von der Organisation erzielten Überschüsse seien offensichtlich nicht so groß, daß damit investiert und gute Aktienpakete gekauft werden könnten: "Die jährlichen Einnahmen des Unternehmens Scientology betragen in Deutschland vielleicht 55 Millionen DM [...] Für ein mittelständisches Unternehmen wäre dies ein hübsches Sümmchen, zu einem Konzern reicht es nicht ganz."

    Auch die von einem Unternehmerverband vorgenommene Untersuchung unter Verbandsmitgliedern deutet in der gesamtwirtschaftlichen Sicht auf eine eher randständige Rolle der wirtschaftlichen Aktivitäten der Scientology Organisation hin. Die mit 200 bis 300 (1995) und 500 (1997) geschätzte Zahl der von Scientology in Deutschland kontrollierten Firmen weist vor dem Hintergrund von insgesamt etwa drei Millionen Unternehmen auf eine begrenzte gesamtwirtschaftliche Bedeutung hin.

    Die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) hat - wie sie der Enquete-Kommission mitteilt - zu Scientology ihre 7.000 Mitglieder nach "relevanten Erkenntnissen aus eigenen Unternehmen oder dem beruflichen Umfeld" befragt. Als Reaktion auf diese Umfrage haben sich zehn Mitglieder gemeldet. In zwei Fällen wurde dabei vermutet, daß der branchennnahme Kontakt zu Personen, die Scientology nahestehen sollen, mit wirtschaftlichen Schäden verbunden war.

    Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Kontakt zu Scientology für einzelne Unternehmen oder Personen risikolos wäre. In einem der Enquête-Kommission bekannten Unternehmen soll der interne Konflikt mit einem von Scientology beeinflußten Geschäftsführer für das Unternehmen existenzbedrohende Ausmaße angenommen haben. Der Geschäftsführer soll im eigenen Unternehmen versucht haben, scientologisches Gedankengut wie die Pflicht zur Schulung von Beschäftigten nach Hubbard'schen Methoden durchzusetzen und dem Betrieb unrealistisch hohe Wachstumsziele vorzugeben.

    Da Scientology in der Bundesrepublik einen sehr schlechten Ruf hat, kann es für Unternehmen existenzbedrohend sein, mit dieser Organisation öffentlich in Verbindung gebracht zu werden, selbst wenn es sich um haltlose Gerüchte handelt.

    (4) Zwischenresümee

    Die Kommission hatte nicht die Aufgabe und auch nicht die Möglichkeit, die gegen die Scientology Organisation gerichteten Vorwürfe im einzelnen zu überprüfen. Die Vorwürfe sind jedoch teilweise so gravierend, daß ihnen durch die zuständigen Behörden nachgegangen werden sollte. Dies gilt insbesondere für die erwähnten straflagerähnlichen Einrichtungen im Ausland, in denen nach Aussagen von Anwälten und Aussteigern auch deutsche Staatsbürger festgehalten werden. Soweit es um Vorwürfe kriminellen Handelns geht, ist es Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, für Aufklärung zu sorgen. Der Ausbreitung des Gedankengutes von L. Ron Hubbard und den darin enthaltenen demokratiefeindlichen Elementen kann jedoch nur durch Information der Öffentlichkeit begegnet werden sowie dadurch, daß die freiheitlichen Werte der Verfassung in der Bevölkerung nachhaltig gefestigt werden.

    Die vorliegenden Informationen machen zugleich deutlich, daß Scientology alles andere als typisch ist. Scientology ist weder mit den neuen religiösen Bewegungen noch mit "Psychogruppen" im allgemeinen vergleichbar. Zumindest die in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund stehenden Kritikpunkte, wie der Vorwurf verfassungsfeindlicher Bestrebungen und des Strebens nach wirtschaftlicher und politischer Macht lassen sich nicht in gleicher Weise gegen andere "Psychogruppen" oder neue religiöse Bewegungen richten. Auch die offen gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Propaganda im Ausland, insbesondere den Vereinigten Staaten, hat keine Parallele. Es ist deshalb notwendig, bestehenden Tendenzen entgegenzuwirken, Scientology als beispielhaft für die mit sogenannten Sekten und Psychogruppen verbundenen Probleme und Konflikte anzuführen.

    2. Okkultismus und Esoterik; Satanismus; Strukturvertriebe

    a. Okkultismus/Esoterik

    Die Kommission hat sich auch mit dem Bereich Okkultismus bzw. Esoterik befaßt, worunter der Glaube an die Wirkung verborgener, der sinnlichen Wahrnehmung entzogener Kräfte und Mächte, an die Wirkung von Glücksbringern, Wunderheilern, Astrologie, Pendeln und Tarot-Karten verstanden wurde. Damit ist einerseits ein Bereich abgedeckt, der umgangssprachlich zuweilen als "Aberglaube" bezeichnet wird. Andererseits werden zum Okkultismus auch nichtschulmedizinische Praktiken wie Homöopathie und Akupunktur gerechnet.

    Unter "Okkultismus" bzw. dem alternativ gebrauchten Begriff "Esoterik" werden somit höchst unterschiedliche Praktiken verstanden, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, daß sie mit Vorstellungen verbunden sind, die naturwissenschaftlich nicht bestätigt werden können. Dies haben sie mit jedem religiösen Glauben gemein. Obwohl es aus der Sicht einer wissenschaftlich-rationalistischen Weltanschauung gute Gründe geben mag, esoterische oder religiöse Glaubenssysteme zu kritisieren, war es nicht Aufgabe der Kommission, zu diesem weltanschaulichen Konflikt Stellung zu nehmen.

    b. Satanismus

    Okkultismus und Esoterik schließen an Traditionen an, die bis in die Antike zurückreichen und durch Personen wie Paracelsus (1493-1541) und Jacob Boehme (1575-1624) bis in die Neuzeit hinein beträchtlichen geistesgeschichtlichen Einfluß ausübten. Davon scharf zu trennen ist der Satanismus, bei dem es sich um ein relativ runges Phänomen der Neuzeit, insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts, handelt. Die verschiedenen Formen des Satanismus grenzen sich durch das Symbol "Satan" dezidiert vom Christentum ab, während okkulte und esoterische Vorstellungen historisch und zeitgenössisch teilweise mit christlichen Traditionen verbunden sind.

    Die mit dem Thema "Satanismus" assoziierten Gruppierungen und Gruppen sind äußerst vielgestaltig. Öffentlich wahrnehmbar und von den Medien vielfach aufgegriffen ist insbesondere der synkretistische "Jugendsatanismus". Kaum öffentlich wahrnehmbar sind dagegen die Formen des organisierten Satanismus, bei dem es sich in Deutschland um ein nicht quantifizierbares Randphänomen handelt.

    In der Öffentlichkeit haben Medienberichte über Straftaten mit satanistischem Hintergrund Aufsehen erregt. Die Enquête-Kommission hat deshalb die Landeskriminalämter zu Straftaten befragt, die im Kontext von satanistischen Praktiken stehen können. Nach diesen Auskünften werden Straftaten mit satanistischem Hintergrund in den meisten Bundesländern nicht gesondert erfaßt. Die lokalen Kriminalämter müssen allerdings "wichtige Ereignisse" melden. Dieses Kriterium erfüllen nach Auffassung des LKA Brandenburg Straftaten "mit satanistischem Hintergrund auf Friedhöfen und in Kirchen" regelmäßig. Ob derart "wichtige Ereignisse" in allen Bundesländern erfaßt werden, ist der Kommission nicht bekannt.

    Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen hat 1995 eine systematische Auswertung von möglichen Straftaten im Zusammenhang mit Okkultismus und Satanismus vorgenommen, bei der auch Vorkommnisse in anderen Bundesländern berücksichtigt wurden. Der Bericht kommt zu folgender zusammenfassender Bewertung:

    "Abschließend ist festzustellen, daß nach den hiesigen Erkenntnissen das Thema Satanismus und damit zusammenhängender Straftaten in der Öffentlichkeit, bedingt durch die reißerische und teilweise unsachliche Darstellung in Medien, zur Zeit überbewertet wird. Satanismus stellt sich demnach - berücksichtigt man die Hinweise auf vereinzelte schwerwiegende Straftaten, die bislang nicht verifiziert werden konnten - wenn überhaupt mehr als qualitatives denn als quantitatives Problem dar.

    Nach übereinstimmender Einschätzung von kriminalpolizeilichen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern scheint die Anzahl der Delikte, die dem 'Pubertäts-Satanismus' durch Jugendliche zuzurechnen sind, zu steigen."

    Unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse sei "zur Zeit" kein konkreter bzw. koordinierter Handlungsbedarf von Seiten der Strafverfolgungsbehörden zu erkennen. Allerdings sei es notwendig, daß "alle Aktivitäten und Strömungen in diesem Umfeld - vor allem im Hinblick auf die mögliche Gefährdung Jugendlicher - besonders sorgfältig beobachtet werden".

    Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt das Landeskriminalamt Baden-Württemberg:

    "Die Einrichtung spezieller Meldedienste erscheint unter Berücksichtigung der qualitativen und quantitativen Ausprägung dieses Phänomens derzeit nicht erforderlich.

    Unter kriminologischen Gesichtspunkten kann nach hiesiger Einschätzung davon ausgegangen werden, daß es sich bei den aufgeführten Straftaten oftmals um sogenannte 'Jugendverfehlungen' und somit um zeitlich begrenzte Delinquenz handelt, die bei zunehmender Persönlichkeitsausbildung der Tatverdächtigen an Bedeutung verlieren dürfte."

    Die kriminalpolizeilichen Erkenntnisse widersprechen teilweise den Erkenntnissen von Sektenberatungsstellen. Auch wenn sich in vielen Fällen ein vermuteter Bezug von Straftaten mit satanistischen Vorstellungen und Praktiken nicht nachweisen läßt, erscheint angesichts öffentlicher Besorgnis eine sorgfältige Beobachtung dieses Bereichs angebracht.

    Ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ausprägungen dieses "Jugendsatanismus" mit "neueren religiösen und weltanschaulichen Bewegungen, sogenannten Sekten und Psychogruppen," ist nach unserer Auffassung aus den der Kommission vorgelegten Informationen nicht ersichtlich. Es lagen der Kommission keine Erkenntnisse über organisierte Formen des Satanismus in Deutschland und damit verbundene Straftaten vor.

    c. "Strukturvertriebe"

    Die Enquête-Kommission hat sich auch mit verschiedenen wirtschaftlichen Vertriebsformen, sog. Strukturvertriebs- und Multi-Level-Marketing-Systeme, befaßt. Dabei wurde deutlich, daß manche dieser Unternehmen mit unlauteren Mitteln zu arbeiten scheinen. Hier scheint ein Handlungsbedarf im Bereich des Wirtschafts- und Wettbewerbsrechtes zu bestehen.

    Die der Kommission vorgelegten Informationen geben nach unserer Auffassung keinen Anlaß, diese Wirtschaftsbetriebe als "neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen, sogenannte Sekten und Psychogruppen," anzusehen oder einen Zusammenhang mit neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen anzunehmen.

    III. Bewertung der Erkenntnisse

    Das Auftreten neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen ist eine normale Erscheinung in modernen Staaten, in denen Religion und Glaube keiner staatlichen Kontrolle unterliegen. Die Pluralität moderner Gesellschaften, in denen Meinungsvielfalt und das Recht auf eigenverantwortliche Lebensgestaltung einen hohen Stellenwert besitzen, bringt es mit sich, daß dem einzelnen ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit eingeräumt wird. Die Hinwendung zu neuen religiösen Bewegungen ist Ausdruck dieser Entscheidungsfreiheit. Gleiches gilt für das Interesse an neuen und nichtkonventionellen Methoden der Persönlichkeitsentwicklung, der Therapie und der Selbsterfahrung. Diesem Bedürfnis entspricht der "Psychomarkt" mit seinen kaum zu überschauenden Angeboten.

    1.. Schwierigkeiten der Bewertung in religiösen und weltanschaulichen Konflikten

    Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen ist auch hier die Freiheit zu selbstverantwortlichem Handeln verbunden mit dem Risiko falscher Entscheidungen. Die Freiheit des einzelnen ist unlösbar verbunden mit der Verantwortung für das eigene Handeln. Die Bewertung dieser Risiken ist nicht leicht. Die Frage, in welchem Maße der Staat oder die Gesellschaft persönliche Risiken aufheben oder abschwächen können und sollen, führt in Bereiche, in denen unterschiedliche politische und sozialethische Positionen aufeinandertreffen. Auf der einen Seite steht das Ideal des freien und selbstverantwortlichen Bürgers, der in der Lage ist, die Folgen seines Handelns abzuschätzen und die Verantwortung dafür zu tragen. Auf der anderen Seite steht die Überzeugung, daß es ein Gebot sozialer Fürsorge des Staates ist, Menschen davor zu bewahren, sich Gefahren auszusetzen, deren Reichweite sie möglicherweise selbst nicht beurteilen können. Eine Überzeichnung der ersten Sichtweise führt zum Verlust sozialer Solidarität. Eine Überzeichnung der zweiten Position bringt Bevormundung.

    Bei der Bewertung der Risiken, die mit religiösen und weltanschaulichen Bewegungen und Gemeinschaften möglicherweise verbunden sind, kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Außenwahrnehmung und Innenwahrnehmung sind in der Regel verschieden. Was von außen als Risikio erscheint, das die Gefahr des Wirklichkeitsverlustes und der psychischen Abhängigkeit birgt, erscheint von innen als Chance, sich selbst und die Welt besser zu verstehen und in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter zu erleben. Hier treffen Überzeugungen aufeinander, die zutiefst weltanschaulich geprägt sind. Zu ignorieren, daß Konflikte mit neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen auch Konflikte zwischen verschiedenen Überzeugungen, Wertvorstellungen und Weltverständnissen sind, hieße ein wesentliches Element der sozialen Wirklichkeit aus den Überlegungen auszublenden.

    Vor diesem Hintergrund ist Zurückhaltung geboten. Der Staat muß sich seiner Grenzen bewußt sein. Er kann nicht entscheiden, was nützlich oder schädlich für den einzelnen ist, wenn nützlich und schädlich eine Frage der Weltanschauung oder des religiösen Glaubens ist. Und er kann nicht Partei ergreifen, wenn in der Gesellschaft über diese Frage gestritten wird. Dies ist nicht leicht, denn die Vertreter des Staates sind selbst Teil dieser Gesellschaft mit eigenen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Doch der Staat ist der Staat aller Bürger. "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden" (Art. 3 Abs. 3 GG). In gesellschaftlichen Konflikten, in denen auch die Vertreter des Staates und des Volkes einen eigenen Glauben, eigene religiöse und politische Anschauungen haben, stellt dies hohe Anforderungen.

    Soweit der Staat überhaupt veranlaßt ist, sich mit solchen Konflikten zu befassen, ist deshalb Beschränkung notwendig. Der Staat kann und muß gewährleisten, daß die Gesetze eingehalten werden. Der Staat kann und muß Menschen helfen, die nach Hilfe suchen und ihrer bedürfen. Aber der Staat muß unparteiisch bleiben. Er kann und darf sich nicht die Argumente einer Partei zueigen machen und die der anderen Seite vernachlässigen. Und er kann sein Urteil nur auf das stützen, was er als gesicherte Tatsachen erkannt hat.

    Der Deutsche Bundestag hat die Enquête-Kommission eingesetzt, um die "durch neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen, sogenannte Sekten und Psychogruppen, entstandenen Probleme" zu untersuchen, insbesondere "die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung des Entstehens und der Ausbreitung dieser Organisationen sowie die durch sie hervorgerufenen Gefahren und Konflikte". Im folgenden werden die Ergebnisse der Kommissionsarbeit zu den durch neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen hervorgerufenen Gefahren und Konflikten aus unserer der Sicht zusammengefaßt. Dabei werden ausdrücklich Bereiche ausgeklammert, die nicht als neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen gelten, insbesondere "Strukturvertriebe" und wirtschaftliche Vertriebssysteme. Es wird auch die Scientology Organisation ausgenommen, weil sie - wie oben dargelegt - in vieler Hinsicht einen Sonderfall darstellt und deshalb gesondert behandelt wird.

    2. Konflikte um neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen

    In einem freiheitlichen Staatswesen kann und darf es niemandem verwehrt sein, Überzeugungen, Wertvorstellungen und Lebensformen, die er für falsch hält, zu kritisieren. Und es darf niemandem verwehrt werden, den kritisierten Überzeugungen, Wertvorstellungen und Lebensformen gleichwohl anzuhängen. Diese Konflikte können und müssen ausgehalten werden, solange sie im Rahmen der Rechtsordnung ausgetragen werden. In einer pluralistischen Gesellschaft, deren wirtschaftliche, politische und kulturelle Dynamik in hohem Maße auf Konkurrenz und Wettstreit beruht, wäre es unangemessen, Konflikte grundsätzlich als gesellschaftliches Problem zu definieren.

    Daß im Zusammenhang mit neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen Konflikte bestehen, ist unbezweifelbar. Dabei sind grundsätzlich zwei Konstellationen zu unterscheiden: 1. Konflikte zwischen neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen bzw. ihren Mitgliedern und Außenstehenden, 2. Konflikte innerhalb neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen.

    Die erstgenannte Konstellation ist die gesellschaftlich bei weitem bedeutendere. Als Konfliktgegner und Kritiker neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen treten insbesondere auf: Vertreter der Amtskirchen, vor allem Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen, Eltern- und Betroffeneninitiativen und andere private Organisationen, einzelne Eltern und Angehörige von Mitgliedern neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen, einige ehemalige Mitglieder und schließlich einige Journalisten. In einigen Fällen treten auch staatliche Stellen als Konfliktpartei auf.

    Die Konfliktkonstellation ist gekennzeichnet durch ein Gemenge antagonistischer Interessen und Weltanschauungen sowie persönlicher Betroffenheit. Die Konflikte sind für die Beteiligten, insbesondere für die persönlich Betroffenen (auf beiden Seiten), oft gravierend und schmerzhaft. Gleichwohl stellen diese Konflikte kein grundsätzliches gesellschaftliches Problem oder gar eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Konflikte mit rechtsstaatlichen Mitteln und im Rahmen der Rechtsordnung ausgetragen werden. In den meisten Fällen scheint dies der Fall zu sein. Wo nicht, ist staatliche Intervention notwendig. Die Gesetze dafür sind vorhanden.

    Für die zweite Konstellation gilt prinzipiell Analoges. Auch Konflikte innerhalb neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen können nicht grundsätzlich als Problem gesehen werden. Es sind Konflikte, wie sie auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten an der Tagesordnung sind. In einem der der Kommission vorgelegten Berichte wird dies deutlich formuliert: "Die beobachteten Zusammenhänge dieser Untersuchung legen es nahe, die Konfliktpotentiale und die tatsächlich entstehenden Konflikte in Analogie zu anderen gesellschaftlichen Gruppen und Beziehungsstrukturen zu sehen, die sich durch soziale Nähe, intensive Interaktion, hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse oder durch konkrete Erwartungs- und Hoffnungsprofile auszeichnen. So wurde immer wieder die Gruppenzugehörigkeit in weltanschaulichen Milieus mit Ehe- und Familienstrukturen verglichen."

    Konflikte allein sind kein gesellschaftliches Problem, das staatliche Intervention erforderte. Aber Konflikte können Indikatoren sein für soziale Probleme, die unter Umständen Intervention erfordern. Es ist deshalb notwendig, die konkreten Vorwürfe zu untersuchen, die von den Konfliktparteien gegeneinander erhoben werden. Auf dieser Basis läßt sich dann ein gegebenenfalls bestehender Handlungsbedarf beurteilen.

    a. Gegen neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen erhobene Vorwürfe

    Im Bericht der Kommissionsmehrheit sind die gegen neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen erhobenen Vorwürfe unter dem Gesichtspunkt der "Konfliktpotentiale" zusammengestellt (Abschnitt 3.3.5). Am Beispiel der Konfliktpotentiale läßt sich die Schwierigkeit erkennen, weltanschauliche Konflikte zu bewerten. Auf die Hauptvorwürfe soll deshalb hier eingegangen werden unter der Fragestellung, ob sich daraus staatlicher Handlungsbedarf ergibt, und unter Berücksichtung der tatsächlichen Erkenntnisse der Kommission:

    (a) Vorwurf der Verfolgung verfassungswidriger Ziele: Es lagen der Kommission keine Informationen vor, die belegen würden, "daß neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen gesellschaftliche Veränderungen anstreben, die mit dem demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar sind, z.B. die Aufhebung der Gleichheit der Geschlechter und aller Menschen [vor dem Gesetz] durch die Einführung eines Kastensystems" in Deutschland. Insofern läßt sich daraus kein staatlicher Handlungsbedarf begründen.

    (b) Vorwurf von Gesetzesverstößen: Es lagen Informationen vor, die auf Verstöße gegen das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht hindeuten, ohne daß dies im einzelnen geklärt wurde. Grundsätzlich ist es eher unwahrscheinlich, daß nicht auch durch Mitglieder neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen Gesetzesverstöße begangen werden. Da Gesetze, gegen die verstoßen wird, bereits bestehen, liegt kein staatlicher Handlungsbedarf vor.

    (c) Vorwurf totalitärer innerer Machtverhältnisse: Es lagen der Kommission keine Belege dafür vor, daß neue religiöse Bewegungen "die verfassungsmäßigen Rechte der Mitglieder einschränken oder beseitigen". In diesem Fall läge ein klarer Gesetzesverstoß vor, der staatlich geahndet werden müßte. Daß in neuen religiösen und weltanschaulichen Gruppen und Gemeinschaften interne Machtstrukturen bestehen, kann als gesichert gelten. Es besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied zu anderen Gruppen. Es wurde in der Kommission nicht geklärt, wann Machtverhältnisse als "totalitär" zu bezeichnen sind. Hinweise darauf, daß Machtausübung mit physischen Zwangsmaßnahmen verbunden wäre, lagen nicht vor.

    (d) Vorwurf des negativen Einflusses religiöser und weltanschaulicher Lehren: Soweit dies aufgrund der von der Kommission in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Untersuchungen feststellbar ist, läßt sich ein negativer Einfluß der in neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen vertretenen Lehren auf die physische oder psychische Gesundheit der Mitglieder nicht feststellen. Insofern kann auf die Darstellung dieser Ergebnisse im Abschnitt "Individuelle Aspekte: Konversion, Mitgliedschaft und 'Ausstieg'" verwiesen werden. Unbezweifelbar ist, daß die Lehren einiger neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen aus der Sicht anderer Weltanschauungen als falsch gelten und so als "Ideologisierung" oder "Realitätsverlust" gedeutet werden können. Dies ist ein in weltanschaulichen und politischen Konflikten nicht ungewöhnlicher Vorwurf und begründet keinen staatlichen Handlungsbedarf.

    (e) Vorwurf der Provokation von Konflikten zur Förderung der Binnensolidarität: Es ist nicht unwahrscheinlich, daß zuweilen solche Motive bestehen, wenngleich dafür der Kommission keine Belege vorlagen. Es handelt sich hier um allgemein bei vielen Gruppen - z.B. bei politischen Parteien - zu beobachtende Strategien, die keinen staatlichen Handlungsbedarf begründen.

    (f) Vorwurf, religiöser Ziele mit wirtschaftlicher Tätigkeit zu vermischen oder als Vorwand für wirtschaftliche und politische Ziele zu benutzen: Es lagen Hinweise vor, daß einige neue religiöse Bewegungen auch wirtschaftlich aktiv sind. Auch gewerbliche Anbieter von Kursen zur Persönlichkeitsentwicklung und Lebenshilfe sind wirtschaftlich tätig. Die Verfolgung wirtschaftlicher und politischer Ziele bedarf in einer freiheitlichen Gesellschaft keines Vorwandes. Für die wirtschaftliche Betätigung auch von religiösen und weltanschaulichen Organisationen bestehen Gesetze, so daß hier kein Handlungsbedarf besteht.

    Die angeführten Beispiele verweisen auf einige grundsätzliche Probleme bei der Beurteilung. Zunächst ist festzustellen, daß die Tatsache, daß der Kommission keine Erkenntnisse vorlagen, die es gestatten würden, erhobene Vorwürfe als Tatsachen anzusehen, nicht bedeutet, daß sie als grundsätzlich unzutreffend oder gar unbegründet gelten müßten. Es kann beispielsweise nicht ausgeschlossen werden, daß es Fälle gibt, in denen physische Gewalt angewendet wurde oder wird. Grundsätzlich spricht nichts für die Annahme, daß im Kontext neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen weniger häufig gegen Gesetze verstoßen wird als in anderen sozialen Kontexten oder daß die Mitglieder weniger anfällig für Fehlleistungen und Irrtümer seien als andere Menschen. Es spricht aber auch nichts für die Annahme, daß Gesetzesverstöße, Fehler und Irrtümer häufiger vorkämen als in der übrigen Gesellschaft. Der Kommission lagen jedenfalls keine Erkenntnisse vor, die diese Annahme nahelegen würden.

    Es wäre deshalb nicht sachgerecht, wenn Vorwürfe, die vielleicht in dem einen oder dem anderen Fall zutreffen mögen, kumuliert und auf diese Weise neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen als sozialer Problembereich identifiziert würden. Die Arbeit der Kommission hat gezeigt, daß soziale Probleme durchaus vorkommen, vor allem im privaten Bereich. Aber sie hat nicht gezeigt, daß die Probleme häufiger oder grundsätzlich anderer Art wären als in vergleichbaren sozialen Kontexten.

    Es ist notwendig, soziale Probleme konkret zu benennen, wenn sie gelöst werden sollen. Die von der Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen haben gezeigt, daß es in der Regel nicht richtig ist, die Ursachen der beobachteten Probleme einseitig in den Strukturen oder Lehren neuer religiöser oder weltanschaulicher Bewegungen zu sehen. Vielmehr muß die jeweils spezifische Beziehung zwischen Individuum und Gruppe berücksichtigt werden, die entweder "passen" kann oder auch nicht. Die Lösung von Probleme dieser Art wird erschwert, wenn ihre Ursache in den einigen neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen zugeschriebenen Konfliktpotentialen gesucht wird. In dem der Kommission vorgelegten Gutachten zur Beratungssituation ist auch klar zum Ausdruck gebracht worden, daß professionelle Beratung in der Regel andere Wege geht: "In allen Beratungsprozessen zeigte sich, daß der Kultkontext im Vordergrund stand, bis die Klienten in der Lage waren, sich ihren eigenen Problemen und deren Lösung zuzuwenden. Ab diesem Zeitpunkt trat die Kultproblematik völlig zurück."

    Die Bewertung der gegen neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen erhobenen Vorwürfe muß die komplexe Struktur von Konflikten berücksichtigen. Es entspricht der Lebenserfahrung, daß Konfliktparteien sich wechselseitig für die Konflikte verantwortlich machen und der Gegenseite "Konfliktträchtigkeit" bescheinigen. Man wird deshalb die erhobenen Vorwürfe sorgfältig auf ihren tatsächlichen Gehalt prüfen müssen. Und man wird die Gegenseite hören müssen.

    b. Gesellschaftliche Konflikte und Minderheitenschutz

    Die gegen neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen erhobenen Vorwürfe werden in der Regel von den Vertretern dieser Gemeinschaften als unzutreffend zurückgewiesen. In einem Fall (ISKCON) wurde eingeräumt, daß niemand - auch die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft nicht - ohne Fehler sei, und es notwendig sei, diese abzustellen, wenn sie erkannt würden. Andererseits wurde von Vertretern neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen auch Kritik an der Gegenseite geübt. Insbesondere gegen einige kirchliche, staatliche und private Beratungs- und Informationsstellen wurde der Vorwurf erhoben, durch unsachliche Kritik Konflikte zu provozieren oder zu verschärfen. Ferner wurde beklagt, daß in den Medien häufig ein verzerrtes oder falsches Bild vermittelt werde, was zu einem gesellschaftlichen Klima der Ablehnung und Diffamierung neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen beitrage.

    Auch hier gilt, was bereits oben zur Struktur von Konflikten festgestellt wurde. Die Schuldzuweisungen sind in der Regel wechselseitig. Die Kommission war nicht in der Lage, die von den Vertretern neuer religiöser und weltanschaulicher Minderheiten erhobenen Vorwürfe auf ihren tatsächlichen Gehalt hin zu überprüfen. Sie war auch nicht in der Lage, die gegen neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen erhobenen Vorwürfe in dieser Hinsicht zu überprüfen. In beiden Fällen bestehen Konfliktpotentiale, d.h. die Möglichkeit, daß Konflikte auftreten, sofern die in den jeweils erhobenen Vorwürfen genannten Bedingungen tatsächlich gegeben sind.

    Für die Bewertung der Konflikte ergeben sich daraus Schwierigkeiten. Was ist - um ein Beispiel zu geben - gefährlicher: die Konfliktpotentiale, die sich daraus ergeben, daß eine religiöse oder weltanschauliche Bewegung mit starkem Sendungsbewußtsein auftritt und Feindseligkeit gegenüber ihrer Umwelt an den Tag legt; oder die Konfliktpotentiale, die sich daraus ergeben, daß eine Gruppe von "Sektengegnern" mit starkem Sendungsbewußtsein auftritt und Feindseligkeit gegenüber neuen religiösen Bewegungen an den Tag legt? Offenbar ist es schwer, wenn nicht unmöglich, aus der Feststellung potentieller Gefahren Rückschlüsse auf tatsächliche Gefahren oder Mißstände zu ziehen. Dies kann nur unter Hinzuziehung konkreter Erkenntnisse geschehen, die Aufschluß darüber geben, ob und in welchem Umfang mögliche Konstellationen auch tatsachlich auftreten und Gefahren verursachen.

    Die Enquête-Kommission hat deshalb empirische Forschungen veranlaßt, die zur Klärung dieser Frage beitragen können. Die Ergebnisse waren insofern überraschend, als nicht erkennbar wurde, daß von neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen Gefahren für die Mitglieder ausgehen. Diese Ergebnisse sind nicht repräsentativ. Allerdings erbrachte auch eine ebenfalls von der Enquête-Kommission in Auftrag gegebene Auswertung repräsentativer Studien das gleiche Ergebnis. Selbstverständlich erlauben diese Ergebnisse keine Rückschlüsse auf Einzelfälle. Es sind jedoch die einzigen methodisch gesicherten Ergebnisse, die der Kommission vorlagen. Wir können sie bei der bewertenden Bestandsaufnahme nicht vernachlässigen. Sie bedeuten, daß - soweit dies anhand der von der Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen beurteilt werden kann - von neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen keine Gefahren für den einzelnen ausgehen.

    Dies heißt nicht, daß es nicht Fälle gibt, in denen im Kontext einer neuen religiösen Bewegung Gefahren für einzelne bestehen. In jedem sozialen Kontext gibt es Fälle, in denen einzelne gefährdet sind. Angesichts einer öffentlichen Diskussion, in der Befürchtungen bestehen, sogenannte Sekten und Psychogruppen, d.h. neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen, seien generell für den einzelnen gefährlich und ihre Ausbreitung stelle insofern ein gesellschaftliches Problem dar, halten wir es jedoch für notwendig, die Bewertung anders zu akzentuieren als die Kommissionsmehrheit. Denn das aus unserer Sicht bemerkenswerteste Ergebnis der Kommissionsarbeit ist der Befund, daß die in der Öffentlichkeit bestehenden Befürchtungen nicht bestätigt werden konnten.

    Wir halten es deshalb für wichtig, dieses Ergebnis zu betonen, weil es uns notwendig erscheint, in der öffentlichen Diskussion zu beobachtenden Tendenzen entgegenzuwirken, neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen als soziale Störfaktoren anzusehen. Religiöse und weltanschauliche Minderheiten, und darum handelt es sich hier, sind Teil dieser Gesellschaft. Ihre Mitglieder sind Bürger und Bürgerinnen dieses Staates. Sie haben deshalb einen Anspruch darauf, daß das in der Öffentlichkeit bestehende Bild korrigiert wird, wenn sich dies aus der Arbeit der Kommission ergibt. Viele Vertreter neuer religiöser Minderheiten haben die Besorgnis geäußert, daß durch die öffentliche "Sekten"diskussion religiöse Minderheiten sozial stigmatisiert werden. Ihre Erfahrungen und Befürchtungen müssen ebenso ernst genommen werden wie die derjenigen, die neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen kritisch gegenüberstehen.

    c. Resümee

    Wir halten es auch für notwendig festzustellen, daß die Problemdefinition, von der alle Fraktionen des Deutschen Bundestages (einschließlich derjenigen, die wir vertreten) bei der Einsetzung der Enquête-Kommission ausgegangen sind, in vielen Punkten nicht bestätigt werden konnte. Es konnte nicht bestätigt werden, daß die Entstehung und Ausbreitung neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen ein "anwachsende[s] vielschichtige[s] Gefährdungs- und Konfliktpotential" bedeutet. Es besteht deshalb auch keine Veranlassung, von Seiten des Staates nach Möglichkeiten zu suchen, durch die verhindert werden soll, daß sich Menschen neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen zuwenden; oder durch die gefördert werden soll, daß Menschen solche Gemeinschaften wieder verlassen. Der Staat muß sich darauf beschränken, in konkreten Fällen Menschen zu helfen, wenn Hilfe notwendig ist.

    Solange sich neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen im Rahmen und unter Beachtung der Rechtsordnung entfalten, ist dies kein Problem der öffentlichen Ordnung. Religiöse und weltanschauliche Konflikte, die sich in diesem Zusammenhang entzünden, können und müssen im vorstaatlichen Raum ausgetragen werden. Der Staat kann seine Aufgabe, die Rechte aller Bürger zu schützen, nur erfüllen, wenn er sich in diesen Konflikten neutral verhält und die Beachtung der bestehenden Gesetze gewährleistet.

    Die bestehenden Konflikte sind ein Indiz dafür, daß der gegenwärtige Prozeß des beschleunigten sozialen und ökonomischen Wandels und die damit verbundenen Spannungen und Unsicherheiten, auch kulturelle Veränderungsprozesse in Gang gesetzt hat. Religion und Weltanschauung sind davon nicht ausgeschlossen. Die Globalisierung auch der kulturellen Beziehungen und die Pluralisierung der Lebensformen innerhalb der Gesellschaft sind Enwicklungen, die man unterschiedlich bewerten, aber kaum unterbinden kann. Dies kann zu Konflikten führen. Mit allen Veränderungen sind immer auch Risiken verbunden. Aber sie bedeuten auch Chancen. Die Vielfalt und die Konkurrenz unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen - alter wie neuer - bieten für den einzelnen die Chance, sich frei und selbstverantwortlich zu entscheiden; und für die Gesellschaft bieten sie die Chance eines offenen Diskurses, der es erlaubt, sich in kritischer Auseinandersetzung mit den Überzeugungen Andersdenkender der eigenen Position zu vergewissern. Diese Chancen sollten nicht geringer geschätzt werden als die Risiken.

    3. Scientology

    Es wurde im darstellenden Teil bereits erläutert, daß die Scientology Organisation in vieler Hinsicht eine Sonderstellung innerhalb der neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen einnimmt. Dies wird auch darin ersichtlich, daß die Kommission diese Organisation nicht als neue religiöse Bewegung eingestuft hat und ungeklärt blieb, ob man von einer weltanschaulichen Bewegung sprechen könne. Allerdings hat die Kommission es nicht als ihre Aufgabe angesehen, die Frage der Einordnung als religiöse oder weltanschauliche Bewegung, als "Psychogruppe" oder Wirtschaftsunternehmen im einzelnen zu behandeln, weil dies für die Arbeit unerheblich war.

    Es wurde oben auch ausführlich dargelegt, daß der Kommission zahlreiche Informationen vorlagen, die Anlaß zur Besorgnis und Kritik geben. Besonders gravierend sind dabei aus unserer Sicht die Berichte über straflagerähnliche Einrichtungen im Ausland, in denen es zur Verletzung von Menschenrechten kommen soll. Diese wie auch viele andere der gegen Scientology erhobenen Vorwürfe haben keine Parallele bei anderen neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen. Aus diesem Grund halten wir es für geboten, Scientology getrennt zu behandeln. Nach unserem Eindruck bezieht sich der größte Teil der öffentlichen Kritik und Besorgnis, die im Zusammenhang mit "Sekten" artikuliert werden, auf Scientology. Die öffentliche Wahrnehmung des "Sektenproblems" wird dominiert durch die Wahrnehmung von Scientology. Da aber Scientology weder repräsentativ noch typisch für neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen und "Psychogruppen" ist, sondern im Gegenteil höchst untypisch, besteht die Gefahr schwerwiegender Mißverständnisse. Religiöse und weltanschauliche Minderheiten könnten allgemein dem Verdacht ausgesetzt werden, ähnliche Strukturen aufzuweisen wie Scientology.

    Die gegen die Organisation erhobenen Vorwürfe sind so gravierend, daß sie mit allen rechtsstaatlichen Mitteln aufgeklärt werden müssen. Es ist unerklärlich, daß Berichte über straflagerähnliche Einrichtungen in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (Großbritannien und möglicherweise Dänemark) und in den USA vorliegen, ohne daß es bisher gelungen ist, bei den Regierungen der betreffenden Staaten eine Klärung der Sachlage zu erwirken. Es muß auch geklärt werden, ob in Deutschland durch Scientology gravierende Rechtsverletzungen begangen wurden oder werden. Das rechtsstaatliche Instrumentarium hierzu ist vollständig vorhanden und es sollte auch genutzt werden.

    Dies ist eine Herausforderung für den Rechtsstaat, weil für jeden Bürger die allgemeine Unschuldsvermutung gilt. Dies gilt auch für Mitglieder und die Organisation von Scientology. Es liegt deshalb nicht nur im Interesse der Öffentlichkeit, daß vermutete Straftaten aufgeklärt und verfolgt werden, sondern auch im Interesse der Verdächtigten. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen dienen auch dem Schutz vor unbegründeten Verdächtigungen. Hier besteht möglicherweise ein Handlungsbedarf bei den Strafverfolgungsbehörden.

    Soweit die Kritik an der Scientology Organisation sich nicht gegen vermutete ungesetzliche Handlungen, sondern gegen das propagierte Welt- und Menschenbild richtet, sind die staatlichen Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Grundsätzlich darf es niemandem verwehrt sein, sich Gedanken zueigen zu machen, die von der Mehrheit mißbilligt werden. Soweit dies Vorstellungen und Lehren betrifft, die den Werten und Normen der Verfassung oder dem ethischen Grundkonsens der Gesellschaft widersprechen, ist jedoch eine offensive Auseinandersetzung damit notwendig. Dies erfordert eine umfassende Information der Öffentlichkeit sowie die Festigung der freiheitlichen und demokratischen Werte des Grundgesetzes.

    4. Zum Problem der psychischen Destabilisierung und Manipulation

    Bei den Diskussionen innerhalb der Kommission wurde immer wieder das Problem möglicher psychischer Manipulation mittels sog. Psychotechniken behandelt. Dies war deshalb notwendig, weil in der Öffentlichkeit häufig der Eindruck besteht, daß Menschen sich nicht selbst für die Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung entscheiden, sondern fast willenlos in ihre Fänge geraten und mit Hilfe subtiler Techniken ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt werden. Alle von der Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, daß diese Annahme nicht bestätigt werden kann. Wir verweisen hier insofern auf die Darstellung der Forschungsergebnisse im Abschnitt "Individuelle Aspekte: Konversion, und 'Ausstieg'". Es gibt keine Belege dafür, daß in neuen religiösen Bewegungen Techniken der sozialen Kontrolle und psychischen Beeinflussung angewandt würden, die sich von denen anderer Gruppen und Gemeinschaften unterscheiden.

    Anders stellt sich das Problem der Psychotechniken bei "Psychogruppen" dar, deren explizites Ziel es ist, bei den Klienten Veränderungen der Persönlichkeit oder psychischen Befindlichkeit zu erreichen. Dies entspricht auch dem Wunsch der Klienten, die sich solchen Gruppen zuwenden, weil sie einen Bedarf an Verbesserung der eigenen psychischen Situation verspüren und entsprechende Erwartungen haben. Hier kommt es - ähnlich wie in der Psychotherapie und teilweise auch in der Pädagogik - zur Anwendung bestimmter Methoden und Techniken, die eine Entwicklung in der gewünschten Richtung fördern sollen. Damit ist insofern eine prekäre Situation gegeben, als der Therapeut oder Lehrer möglicherweise Entwicklungen fördern kann, deren Konsequenzen der Klient nicht abschätzen kann. Der Klient muß deshalb dem Lehrer oder Therapeuten in hohem Maße vertrauen. Vertrauen aber kann grundsätzlich auch mißbraucht werden. Es lagen der Kommission keine Informationen darüber vor, ob und in welchem Maße es in diesem Bereich zu Mißbräuchen kommt. Gleichwohl erscheint es sinnvoll und notwendig, darauf hinzuwirken, daß möglichen Fehlentwicklungen durch die Entwicklung, Kodifizierung und Überwachung professioneller Standards entgegengewirkt wird.

    Darüber hinaus wurde in der Kommission das sehr viel grundsätzlichere Problem angesprochen, das sich aus den Möglichkeiten einer gezielten Beeinflussung und Konditionierung von Menschen ergebe. Solche Techniken würden bei Persönlichkeitstrainings angewandt, beispielsweise im Bereich der Managementschulung, um die individuelle Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Sie würden aber auch von manchen "Strukturvertrieben" und bei bestimmten Verkaufsstrategien eingesetzt, um die Kritikfähigkeit herabzusetzen. Es bestehe die Gefahr, daß verhaltenspsychologisch begründete Techniken der Beeinflussung in Zukunft noch in erheblich größerem Umfang eingesetzt würden und damit Menschen manipuliert würden.

    Da keine Hinweise darauf vorlagen, daß solche Techniken in neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen angewandt werden, hat sich die Kommission damit nicht weiter befaßt. Allerdings wurde von einem Kommissionsmitglied darauf hingewiesen, daß die in der Scientology Organisation benutzten Trainingsmethoden in diesem Kontext zu sehen seien. Genauere Informationen lagen der Kommission nicht vor.

    5. Zusammenfassung der Bewertung

    Auf der Basis der verfügbaren Informationen kommen wir zu dem Ergebnis, daß von neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen allgemein in Deutschland keine Gefahren für den einzelnen, die Gesellschaft oder den Staat ausgehen. Die für den einzelnen im Zusammenhang mit einer Mitgliedschaft in einer neuen religiösen oder weltanschaulichen Bewegung festgestellten Risiken bewegen sich im Rahmen dessen, was auch in anderen engen, emotional geprägten Gruppen und Beziehungen zu beobachten ist.

    Es ist unverkennbar, daß im Zusammenhang mit neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen zahlreiche Konflikte aufgetreten sind und noch bestehen. Ein Großteil dieser Konflikte bezieht sich auf den innerfamiliären Bereich. Soweit dies aus den verfügbaren Informationen ersichtlich ist, müssen diese Konflikte in der Regel vor der Hintergrund familiärer Beziehungsstörungen interpretiert werden.

    Es bestehen ferner deutliche Konflikte im Bereich der öffentlichen Auseinandersetzung. Einige neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen werden in den Medien und durch öffentliche Äußerungen zum Teil heftig kritisiert. Mit dem abwertenden Begriff "Sekten" werden neue religiöse Bewegungen und religiöse Minderheiten allgemein gesellschaftlich stigmatisiert.

    Die verfügbaren Informationen erlauben es nach unserer Auffassung nicht, bestehende Konflikte als einseitig durch neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen verursacht zu beschreiben. Konflikte sind interaktive Prozesse, deren Ursachen und Verläufe in jedem Einzelfall bestimmt werden müssen.

    Grundsätzlich halten wir familiäre und gesellschaftliche Konflikte, die im Rahmen der Rechtsordnung ausgetragen werden, nicht für eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung, die staatliche Intervention erforderte. Jedoch halten wir es für notwendig, daß ein staatliches Beratungsangebot besteht, das Hilfe bei der Bewältigung persönlicher oder familiärer Konflikte bietet.

    Ohne Zweifel gibt es auch im Bereich neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen persönliche Fehlleistungen und Rechtsverletzungen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, daß sie häufiger aufträten als in vergleichbaren sozialen Kontexten. Im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang können sie nicht als für den Bereich typisch angesehen werden.

    Es ist notwendig, Fehlentwicklungen, dort wo sie auftreten, konkret zu benennen. Eine allgemeine Zuschreibung zum Bereich "sogenannte Sekten und Psychogruppen" fördert die Tendenz, vermutete oder tatsächliche Mißstände bei einer Gruppierung zum Anlaß einer grundsätzlichen Kritik an neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen zu nehmen.

    Aufgrund dieser Einschätzung halten wir die bestehenden Gesetze für ausreichend, um auf im Einzelfall auftretende Probleme und Konflikte angemessen zu reagieren. Unsere Handlungsempfehlungen enthalten deshalb nur Maßnahmen, die keine Änderung bestehender oder Einführung neuer Gesetze erfordern.

    IV. Handlungsempfehlungen

    1. Konfliktreduzierung und Förderung religiöser und weltanschaulicher Toleranz

    Die Ergebnisse der von der Enquete-Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen haben gezeigt, daß Konflikte mit und in neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen nicht einseitig der einen oder anderen Konfliktpartei zugeschrieben werden können. Die in diesem Zusammenhang auftretenden Auseinandersetzungen strahlen häufig - mitunter durch mediale Vergröberungen ausgelöst - über den Kreis der unmittelbar in Konflikte verwickelten Beteiligten hinaus. Diese Konflikte können zu lang andauernden, verhärteten rechtlichen Auseinandersetzungen eskalieren, die individuelle Sorgerechtsfragen in Familien ebenso wie den Status der Gemeinnützigkeit von Gemeinschaften betreffen können. Es ist in plurali-stischen Gesellschaften grundsätzlich unvermeidbar, daß gesellschaftliche Konflikte auftreten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Konflikte nicht in einer dialogbereiten Weise ausgetragen werden sollten, ohne die Einrichtungen der überlasteten Justiz in Anspruch nehmen zu müssen.

    Wir schlagen deshalb vor, von gesellschaftlichen Kräften getragene Vermittlungsstellen (Mediationsstellen) einzurichten. Sie könnten einem "Runden Tisch" vergleichbar den organisatorischen Rahmen für einen Dialog bilden, mit dem konfliktentschärfende Lösungen in religiösen Angelegenheiten angestrebt werden. Mediationsstellen sind idealtypisch betrachtet konstruktive Formen der Konfliktregelung, die von den Betroffenen nicht nur passiv hingenommen, sondern auch aktiv mitgetragen werden.. Dabei gibt es allerdings in keinem Bereich die Garantie, daß Konflikte durch Vermittlung gelöst werden können. Dies trifft auch für religiöse Spannungen zu, die heterogene Ursachen wie die Rivalität verschiedener Glaubensrichtungen oder die unterschiedliche normative Orientierung zwischen den Generationen haben können.

    Mit Mediationsstellen vergleichbare Einrichtungen gibt es bereits im Ausland, oder sie sind dort Gegenstand von Diskussionen. In Großbritannien sind die großen Religionsgemeinschaften ebenso wie beispielsweise die Organisation der Baha'i im "Interfaith-Network" vertreten. Die dieser Einrichtung angehörenden Gruppierungen haben sich auf gemeinsame Ziele verständigt: Sie setzen sich für Toleranz und gegenseitiges Verständnis ein. Sie wollen religiöse Konflikte eindämmen und religiös begründete Mißbräuche und Fehlentwicklungen verhindern. Wenn eine Gruppe im Interfaith-Network mitwirkt, signalisiert sie der Öffentlichkeit, daß sie sich mit den erwähnten Zielsetzungen identifiziert.

    In Frankreich ist im Zusammenhang mit religiösen und weltanschaulichen Minderheiten eine "Interministerielle Beobachtungsstelle" eingerichtet worden. Sie ist dem Premierminister zugeordnet und mit Juristen, Soziologen und Vertretern anderer Bereiche interdisziplinär besetzt. Die französische Bischofskonferenz hat vorgeschlagen, in diese "Beobachtungsstelle" auch Vertreter der großen Religionsgemeinschaften wie Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus sowie Vertreter weltanschaulicher Gruppen, Humanwissenschaftler und Vertreter von Selbsthilfegruppen aufzunehmen.

    In Deutschland arbeiten bereits zahlreiche Kirchen im Sinne der christlichen Ökumene in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) zusammen. Es wäre wünschenswert, wenn den Mediationsstellen außer diesen Organisationen auch andere religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften und beispielsweise Selbsthilfegruppen Betroffener sowie Religions-wissenschaftler und Juristen angehören würden. Dabei könnte durch die Zugehörigkeit oder den Gaststatus ausgedrückt werden, daß sich Organisationen im Sinne der Zielsetzungen der Mediationsstelle verändern können.

    Wir schlagen insofern den betroffenen gesellschaftlichen Kräften vor, in einen Dialog mit dem Ziel einzutreten, Konflikte abzubauen, in diesem Zusammenhang bereits informell bestehende Ansätze auszubauen und dafür den geeigneten organisatorischen Rahmen im Sinne von Mediationseinrichtungen zu schaffen.

    Es ist darüber hinaus die Aufgabe des Staates, ein Klima religiöser und weltanschau-licher Toleranz zu fördern. Wir teilen die Auffassung des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen, Abdelfattah Amor, daß der Staat - unabhängig vom tagespolitischen Geschehen - eine aktive Rolle spielen muß, um "ein Bewußtsein für die Werte der Toleranz und Nicht-diskriminierung im Bereich von Religion und Glauben zu entwickeln". Wir empfehlen den staatlichen Stellen, die Aufklärung über möglichen Mißbrauch und Gefahren, die im Zusammenhang von religiösen und weltanschaulichen Bewegungen bestehen können, und die Förderung der Toleranz gegenüber diesen Gruppierungen als gleichrangige Ziele zu behandeln.

    2. Verzicht auf den Begriff "Sekte" in staatlichen Äußerungen

    Wenn religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften öffentlich mit dem abwertenden Begriff "Sekten" klassifiziert werden, kommt dies einer Anklage und einer Verurteilung gleich. Dies gilt zwar nicht im unmittelbar juristischen Sinne, aber in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Eine als "Sekte" bezeichnete religiöse und weltanschauliche Gemeinschaft ist gesell-schaftlicher Ablehnung oder gar Verachtung ausgesetzt. Sie wird in der öffentlichen Diskussion häufig als generell gefährlich und bedrohlich wahrgenommen. Dies gilt auch dann, wenn sich diese Organisation und ihre Mitglieder rechtlich und moralisch nichts zuschulden haben kommen lassen.

    Mehrere kleine religiöse und weltanschauliche Bewegungen haben der Enquete-Kommission mitgeteilt, daß sie durch allgemeine Warnungen vor "Sekten" oder vor einzelnen Gruppierungen herabgesetzt werden. Dabei zeigt sich, daß negative Zuschreibungen, die mit dem Sektenbegriff verbunden sind, oft auch auf religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften bezogen werden, die nicht gemeint sind. Dies kann dazu führen, daß den Mitgliedern dieser Gruppierungen im privaten und beruflichen Bereich, gelegentlich auch im Verkehr mit Behörden, Nachteile entstehen.

    Wir empfehlen, in staatlichen Verlautbarungen ebenso wie in gesellschaftlichen Publikationen auf Begriffe wie "Sekte" oder "sogenannte Sekte" zu verzichten. Es sollten abwertende Verallgemeinerungen vermieden werden, die das gesamte Spektrum religiöser und weltan-schaulicher Minderheiten unter einen unzulässigen Generalverdacht stellen.

    Für die Zwecke der neutralen Beschreibung und Analyse sind deshalb die Bezeichnungen "neue religiöse Gemeinschaften" oder "neue religiöse Bewegungen" sowie "neue weltanschauliche Bewegungen" vorzuziehen. Soweit es im Zusammenhang mit der staatlichen Informationsarbeit angezeigt ist, Warnungen auszusprechen, sollte grundsätzlich darauf verzichtet werden, dies in allgemeiner Form zu tun. Stattdessen sollten die jeweils konkret gemeinten Fälle benannt werden.

    3. Einrichtung einer Stiftung

    Wir empfehlen die Einrichtung einer Stiftung. Ihre Aufgabe soll sein, fundierte Kenntnisse über neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen zu gewinnen und zu verbreiten. Sie soll Konflikte im Zusammenhang mit neuen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften untersuchen und gegebenenfalls moderieren. Die Stiftung soll Informationen über diese Organisationen dokumentieren und Maßnahmen mit dem Ziel fördern, Konflikte zu vermeiden oder zu vermindern.

    Wir plädieren für eine Stiftung als Einrichtung des öffentlichen Rechts unter finanzieller Beteiligung von Bund und Ländern. Dabei soll die Stiftung frei sein, Zuwendungen von Dritten annehmen zu können.

    Der Stiftungsidee liegt die Absicht zugrunde, daß der in Glaubens- und Weltanschauungsfragen neutrale Staat in gesellschaftlichen Konflikten eine vermittelnde, Spannungen abbauende Rolle spielen sollte. In der Zusammensetzung der Gremien der Stiftung muß sich deshalb widerspiegeln, daß auch Vertreter neuer religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften in den gesellschaftlichen Dialog einbezogen werden.

    Dem Stiftungsrat sollten außer den Vertretern von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat auch sachverständige Wissenschaftler und die Repräsentanten gesellschaftlich relevanter Organisationen angehören: Dazu zählen wir in diesem Zusammenhang die Katholische Kirche, die EKD, Freikirchen, die Jüdische Gemeinde, die Islamische Gemeinschaft, neue religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften, Betroffeneninitiativen und den Deutschen Presserat.

    Der Stiftung sollten neben einer vom Stiftungsrat zu wählenden Geschäftsführung auch Fachbeiräte angehören. Ihre Aufgaben sollen in den Bereichen Forschungsarbeiten, Auslandsarbeit, Qualifizierungsmaßnahmen und Konfliktmoderation bestehen.

    4. Forschungsförderung

    Wer sich in Deutschland mit religiösen und weltanschaulichen Minderheiten befaßt, ist dem generellen Problem konfrontiert, ein sehr komplexes Spektrum mit einer unzureichenden Informationslage überschauen zu müssen. Viele in der Öffentlichkeit über diese Organisationen kursierenden Informationen stellen keine gesicherten Tatsachenerkenntnisse, sondern Meinungsäußerungen dar, die von Gegnern neuer religiöser Gemeinschaften oder auch von diesen Bewegungen selbst verbreitet wurden. Es fehlt in Deutschland an einer systematischen, methodisch fundierten Überprüfung dieser Informationen unter Berücksichtigung der internationalen Forschungsergebnisse.

    Es ist aufgrund der unzureichenden wissenschaftlichen Fundierung für die interessierte Öffentlichkeit außerordentlich schwierig, zuverlässige Informationen über einzelne Religionsgemeinschaften zu erhalten. Wenn Fehlinformationen verbreitet werden, können diese für die Mitglieder der betroffenen Religionsgemeinschaften gravierende Konsequenzen bis hin zur Beeinträchtigung des Grundrechts auf ungestörte Religionsausübung haben. Umgekehrt können aber auch individuelle Risiken beim Kontakt mit bestimmten Gruppen bestehen, wenn über sie falsch informiert wird. Für staatliche Stellen, die die Öffentlichkeit informieren, ergibt sich insofern eine erhöhte Sorgfaltspflicht und die Notwendigkeit, den in Deutschland bestehenden unzureichenden Informationssstand zu verbessern.

    Die wissenschaftliche Debatte zum Phänomen neuer religiöser und weltanschaulicher Gemein-schaften wird in Deutschland häufig auf der Basis der viel umfassenderen Forschungslage in den USA und in Großbritannien geführt. Es ist angesichts der unterschiedlichen kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen aber nicht unproblematisch, diese Forschungsergebnisse auf die deutsche Situation zu beziehen. Es bedarf insofern in Deutschland eigenständiger Forschungsanstrengungen.

    Wir schlagen deshalb vor, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen interdisziplinären Förderungsschwerpunkt "Neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen" anzuregen. Auch im Rahmen der Strukturplanung an Universitäten sollte dieses Forschungsgebiet angemessen berücksichtigt werden.

    5. Beratungsstellen

    Persönliche und familiäre Konflikte und Krisen, die bei Mitgliedern neuer religiöser Gemeinschaften oder ihren Angehörigen auftreten können, sind mitunter für die Betroffenen in so hohem Maße belastend, daß sie nach professioneller Hilfe suchen. Die von der Enquete-Kommission in Auftrag gegebenen Untersuchungen haben gezeigt, daß die Konflikte nur unter Berücksichtigung der jeweils individuellen biographischen Situation analysiert und gelöst werden können. Dabei stellt die aktuelle oder ehemalige Mitgliedschaft in einer neuen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft zwar einen wichtigen Faktor dar, sie kann jedoch in der Regel nicht als die Ursache der jeweils bestehenden Probleme angesehen werden. Dies wird bei der Beratung zu berücksichtigen sein.

    "Eine ganzheitliche, für alle Lebensbereiche offene Beratung ist günstiger als ein Hilfsangebot, das sich fast ausschließlich auf die unmittelbare Gruppenerfahrung fixiert. Nur so wird es möglich sein, unter Absehung persönlicher oder gesellschaftlicher Stereotypen oder Projektionen gegen randkirchliche Gruppen im Sinne der sozialen und biographischen Wirklichkeit zu beraten und zu begleiten". Zu einer in der Sache ähnlichen Einschätzung kommt Beate Roderigo in dem ebenfalls von der Enquete-Kommission in Auftrag gegebenen Gutachten "Zur Qualifizierung von Beratungsarbeit im Spannungsfeld sogenannter Sekten und Psychogruppen: Kriterien und Strategien". Dabei wird auch darauf hingewiesen, daß eine gute Kenntnis der besonderen Situation in religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften in der Regel unverzichtbar ist. Dies wird auch in dem Gutachten des Informations- und Beratungs-dienstes des Referates für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Aachen betont. Gleichzeitig wird jedoch vermerkt, "daß der Aufwand, der nötig wäre, um weltanschaulich fundiert beraten zu können, in keinem vernünftigen Verhältnis zu der zu erwartenden Zahl der Nachfragen steht".

    Wir empfehlen deshalb, die psychologische Beratung im Umfeld neuer religiöser und welt-anschaulicher Bewegungen in die allgemeine psycho-soziale Beratung einzubeziehen. Dabei sollte eine enge Zusammenarbeit mit Fachleuten bestehen, die in den Bereichen Religion, Esoterik und "Psychogruppen" über entsprechendes Hintergrundwissen verfügen. In diesem Zusammenhang kommt auch den Beratungsstellen der Kirchen eine wichtige Funktion zu.

    Wir halten es ferner für notwendig, daß die Beratungstätigkeit deutlich von der Informations-tätigkeit getrennt wird. Die Beratung muß hinsichtlich der Bewertung neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen neutral sein.

    Eine staatliche Förderung privater Informationsstellen lehnen wir grundsätzlich ab. Soweit es aus staatlicher Sicht notwendig ist, die Öffentlichkeit über neue religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften zu informieren, kann dies nur in staatlicher Verantwortung geschehen. Eine Delegierung dieser Aufgaben und damit auch der Verantwortung an private Stellen halten wir für politisch und rechtlich nicht vertretbar. Die Information über religiöse Gemeinschaften durch den Staat muß immer vor dem Hintergrund des Grundrechts auf ungestörte Religionsausübung erfolgen. Dazu bedarf es einer besonderen Sorgfalt und Verantwortung. Sie kann deshalb nicht an private Informationsstellen delegiert werden.

    6. Selbstkontrolle statt Gesetz zur Lebensbewältigungshilfe

    Der Bundesrat hat im vergangenen Jahr einen Gesetzentwurf zur "gewerblichen Lebensbe-wältigungshilfe" vorgelegt. Mit diesem Begriff sind entgeltliche Dienstleistungen gemeint, mit denen die seelische Befindlichkeit oder die geistig-seelischen Fähigkeiten von Menschen "festgestellt oder verbessert" werden sollen. Die vorgesehene gesetzliche Regelung soll Verbraucher vor übereilt abgeschlossenen und nachteilig wirkenden Vertragsabschlüssen schützen. Die Nutzer dieser Leistungen sollen zudem vor der "mißbräuchlichen Anwendung von Techniken, mit denen Bewußtsein, Psyche und Persönlichkeit manipuliert werden können", bewahrt werden.

    Es wird angenommen, daß das Gesetz zur Lebensberatung für private Dienstleister wie beispielsweise Therapeuten, Yoga- und Meditationslehrer, Astrologen, Mal- und Farbtherapeuten, Kinesiologen und Personaltrainer gelten wird. Ärzte, Psychiater, Heilpraktiker, Volkshochschulen oder die großen Amtskirchen werden grundsätzlich nicht zum Geltungsbereich dieses Gesetzes gezählt. Dies gilt offenbar auch dann, wenn sie die gleichen Verfahren wie die erwähnten privaten Dienstleister anwenden.

    Nicht nur die betroffenen Anbieter, auch die Bundesregierung und die Evangelische und die Katholische Kirche haben sich in ihren Stellungnahmen mit der vorliegenden Bundesrats-Initiative kritisch auseinandergesetzt. Wir teilen diese Kritik und lehnen eine gesetzliche Regelung auf dem Gebiet der Lebensbewältigungshilfe ab.

    Es ist nach unseren Informationen bislang nicht belegt, daß für den Bereich der privaten Lebensberatung "mißbräuchlich angewandte manipulative Techniken" und nachteilige Vertragsabschlüsse für die Nutzer charakteristisch sind. Die Bundesregierung hat im Zusammenhang mit einer parlamentarischen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erklärt, daß ihr nicht bekannt ist, in welcher Weise und in welchem Ausmaß durch gewerbliche Lebensberatung ausgelöste Schädigungen auftreten.

    In einer von der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" in Auftrag gegebenen Untersuchung haben sich die Nutzer unkonventioneller Heil- und Lebenshillfe-beratung zu den angewandten Methoden überwiegend - zu mehr als 80 Prozent - zufrieden geäußert. Dieser Befund wird auch durch Studien in verschiedenen Ländern bestätigt.Wir betrachten es als problematisch, daß mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein Zwei-Klassen-Recht eingeführt würde: Staat und Amtskirchen hätten in der Konkurrenz mit privaten Lebensberatern und religiösen Minderheiten einen privilegierten Status. In der Praxis unter Umständen identische oder vergleichbare Leistungen würden unterschiedlichen vertragsrechtlichen Bedingungen unterliegen. Es ist nicht schlüssig zu argumentieren, Amts-kirchen und Staat handelten per se ideell oder karitativ, während private Anbieter und religiöse Minderheiten unter dem Generalverdacht stünden, vorrangig unlautere materielle Ziele zu verfolgen.

    Wir teilen auch den Einwand, daß mit dem Entwurf des Bundesrates nicht hinreichend abge-grenzt werden kann, auf welche Verträge der vorliegende Entwurf eines Sondergesetzes anwendbar sein soll. Es ist ebenso nicht möglich, zwischen seriösen und unseriösen Anbietern zu unterscheiden. Die vorgeschlagenen Regelungen zum Rücktritts- und Widerrufsrecht würden die Planungssicherheit auf der Seite der Anbieter unangemessen beeinträchtigen.

    Die Zielsetzung der Bundesrats-Initiative, Hilfesuchende bzw. Verbraucher vor übereilten und unvorteilhaften Vertragsabschlüssen zu schützen, erscheint uns grundsätzlich sinnvoll. Wir sehen allerdings in dem vorgesehenen Sondergesetz ein untaugliches Instrument. Wir schlagen deshalb vor, daß die Anbieter auf dem "Psychomarkt" - soweit das noch nicht geschehen ist - über Verbände bzw. Standesorganisationen selbsttätig Qualitätsstandards entwickeln und sich über Ethik-Konventionen verständigen.

    7. Veröffentlichung von Gutachten und Forschungsergebnissen

    Wir appellieren an den Deutschen Bundestag, zeitgleich mit der Veröffentlichung des Endberichts der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" auch die von der Kommission in Auftrag gegebenen Gutachten und Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Dabei muß die wissenschaftliche Zitierfähigkeit gewährleistet werden.

    Es handelt sich um folgende Gutachten und Forschungsberichte:

    1) Informations- und Beratungsdienst des Referates für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Aachen: "Beratungsbedarf und auslösende Konflikte im Fallbestand einer sogenannten Sektenberatung anhand von Fallkategorien und Verlaufsschemata"

    2) Fuchs-Heinritz, Werner; Schöll, Albrecht; Streib, Heinz; Veeser, Wilfried: "Aussteiger, Konvertierte und Überzeugte - kontrastive Analysen zu Einmündung, Karriere, Verbleib und Ausstieg in bzw. aus neureligiösen und weltanschaulichen Milieus oder Gruppen sowie radikalen christlichen Gruppen der ersten Generation"

    3) Gladigow, Burkhard: "Durch welche Merkmale läßt sich religiöse Abhängigkeit bestimmen?"

    4) Hellmeister, Gerhard; Fach, Wolfgang: "Anbieter und Verbraucher auf dem Psychomarkt. Eine empirische Analyse"

    5) Murken, Sebastian: "Soziale und psychische Auswirkungen der Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Integration und psychischen Gesundheit"

    6) Roderigo, Beate: "Zur Qualifizierung von Beratungsarbeit im Spannungsfeld sogenannnter Sekten und Psychogruppen: Kriterien und Strategien"